SPIELVERLAUF

 

Die Eiswüste

 

 

 

Sonntag, 20. Februar

 

Der dürftige Landestreifen von Nordpol 17 eilte der Bison entgegen. Der Pilot richtete die Nase der Maschine in die Mitte der Lichterreihen, die jetzt zu Bändern ineinander verschwammen. Er drosselte die Maschine und murmelte ein Stoßgebet. Die Bahn war zu kurz für den Bison.

Die Eisfläche flog ihm entgegen, schoß unter ihm davon. Die Räder berührten den Boden, der Bomber schlingerte. Der Pilot knirschte mit den Zähnen und bremste. Schneewolken stoben auf, klatschten gegen die Fenster und vernebelten die Sicht. Eisklumpen bombardierten das Fahrwerk wie ein Hagel von Maschinengewehrkugeln. Die Maschine donnerte weiter, über den Landestreifen hinaus…

»Aufregend, nicht wahr, Kramer?« meinte Papanin.

Kramer in dem Sitz neben ihm war starr vor Angst und verkrampfte die Hände in den Armstützen. Der Sibirier beobachtete neugierig den Balten, der geradeaus stierte, anstatt zu antworten; und das ist ein ausgebildeter Vernehmungsbeamter – der Mann, der in den Keller steigt und aus einem armen, zusammengebrochenen Opfer Informationen herausprügelt! Schwitz du nur, mein kleiner Balte, schwitz nur!

Der Bomber kam nur fünfzehn Meter vor der Katastrophe zum Stehen. »Sie können die Augen jetzt wieder aufmachen, Kramer«, sagte Papanin väterlich.

Er schaute aus dem Fenster, verharrte einen Augenblick erstaunt und schleuderte dann den Sicherheitsgurt beiseite. Bevor die etwa fünfzig Mann der Sicherheitstruppe, die hinter ihm auf dem Deck lagen, in Bewegung kamen, war er an der Tür. Er hatte sie aufgerissen, noch ehe draußen das Bodenpersonal Zeit hatte, eine Metalleiter gegen den Rumpf zu lehnen. Er hing halb aus der Maschine und sah angestrengt in die mondhelle Nacht.

»Ist es fort? Verdammte Scheiße!«

Am Fuße der Leiter angelangt, die Hände tief in den Parka vergraben, feuerte er Dr. Alexej Minsky, dem Leiter der Basis, seinen Fluch entgegen. Minsky war, wie Kramer, klein und gedrungen. Die Schneebrille, die das Mondlicht reflektierte, machte ihn zu einer unheimlichen Erscheinung. Prompt brachte er Papanin in Rage.

»Ist was fort, Herr Oberst?«

»Himmelarsch! Das Flugzeug, das ich gesehen habe, als wir gelandet sind.«

»Es ist nach Westen fortgeflogen…«

»Was ist mit dem Radar? Haben Sie nicht auf den Radarschirm geguckt?«

»Nein, Oberst. Einen Augenblick, ich bin gleich zurück…«

»Vor lauter Angst hat er die Hose voll«, schimpfte Papanin in Kramers Richtung, der hinter ihm die Leiter heruntergekommen war. »Er ist gefährlicher als ein Eisbär – er ist ein Vollidiot! Ab sofort muß Minsky drinnen bleiben.« Die Hände immer noch im Parka, sah er sich um. Nichts entging ihm; Die Trostlosigkeit der sowjetischen Basis beeindruckte ihn. Etwa fünfhundert Meter in jeder Richtung war das Eis verhältnismäßig flach; aber dahinter lag der gefrorene Strudel des Packeises, ein höllisches Chaos von aufeinandergetürmtem Eis.

»Diesen Ort hier wird’s nicht mehr lange geben«, bemerkte er.

Anders als auf den amerikanischen Forschungsstützpunkten, wo die Piste immer abseits des Lagergeländes angelegt wurde, standen die schneebedeckten Fertigbaracken auf Nordpol 17 kaum dreißig Meter von der improvisierten Piste entfernt. Die kleine Siedlung wurde von einem dreißig Meter hohen Radarmast beherrscht, auf dessen Spitze die flügelförmige, nach allen Seiten drehbare Richtantenne steckte. Der Sibirier gab Kramer kurze Instruktionen und wandte sich dann Minsky zu, der über das Eis zurückgelaufen war.

»Kaum ein Nadelkopf auf dem Radarschirm«, keuchte Minsky, dessen Brillengläser beschlagen waren. »Als das amerikanische Flugzeug Sie gesehen hat, ist es direkt nach Grönland zurückgeflogen!« Aus seinem Mund klang es wie ein Triumph. Papanin streckte seine Hand aus und schob die Schneebrille über Minskys Stirn.

»In einer solchen Nacht brauchen Sie diese Dinger nicht – oder dachten Sie, Sie steckten in einem Schneesturm? Haben die Hubschrauber Gorow gefunden? Haben Sie ihn zurückgebracht? Haben Sie die Schneepanzer ausgeschickt? Haben Sie überhaupt irgend etwas Sinnvolles getan?«

»Gorow ist noch nicht gefunden worden…«, Minskys Stimme verriet Nervosität. »Es wird noch gesucht…«

»Aussteigen!«

Papanin brüllte den Befehl zum Flugzeugausgang hinauf und ging mit großen Schritten über die Piste zum Lager. Jetzt, da keine Gefahr mehr bestand, daß ein amerikanisches Flugzeug beobachten konnte, wer oder was dem Bison entstieg, machte er sich nicht mehr die Mühe, zu den bewaffneten Männern zurückzuschauen, die einer nach dem anderen die Leiter herabkletterten. Und jetzt, da der Sibirier sich außerhalb Rußlands befand, hatte er wieder das Gefühl der Freiheit: Er hatte volle Befehlsgewalt, konnte sofortige Entscheidungen treffen, ohne daß Syrtow über seine Schulter schielte und blöde Vorschläge machte.

Das exakte Datum, an dem der Sicherheitsdienst für besondere Aufgaben gegründet wurde, ist unbekannt; aber irgendwann im Jahre 1968 kam Breschnew zu der Überzeugung, daß das KGB für Auslandsaufgaben auf verlorenem Posten stand. Die Zersetzung hatte mit dem Tode Stalins eingesetzt – die repressivste Organisation der Welt, das KGB, sah sich selbst unter Druck gesetzt. Die Folter wurde verboten und durch Einrichtungen wie das Serbsky-Institut in Moskau* ersetzt. Bald wetteiferten die hohen KGB-Funktionäre miteinander darin, sich innerhalb der Gesetze zu bewegen. Diese Sinnesänderung paßte wunderbar zu Chruschtschows neuer liberaler Politik in Rußland, jedoch nicht im Ausland. Eine terroristische Organisation ohne Terror nimmt sich etwa so aus wie ein impotenter Mann im Bordell. Also wurde eine neue Organisation geschaffen.

Der Sicherheitsdienst für besondere Aufgaben darf nur außerhalb der Sowjetunion eingesetzt werden – er hat keine Macht innerhalb ihrer Grenzen. Er darf jede Methode anwenden, seine Ziele zu erreichen, und da sein Operationsfeld sich auf fremde Territorien beschränkt, besteht keine Gefahr, daß er sich zu einem Monstrum aus wachsen könnte wie einst das KGB. Breschnew gestattete eine einzige Ausnahme von dieser Regel: Wegen der Judenfrage hatte Papanin gewisse Vollmachten innerhalb der Stadtgrenzen von Leningrad. Aber in dem Augenblick, in dem er Murmansk verlassen hatte, hatte der Sibirier das Spiel völlig in der Hand.

»Was sollen diese Maschinen – warum sind sie nicht in der Luft?« schnauzte Papanin. Wild gestikulierend zeigte er in die Richtung der sechs Hubschrauber, die jenseits der Piste abgestellt standen, um dem Bison die Bahn frei zu machen. Der kurzbeinige Minsky neben ihm trabte, um Schritt zu halten.

»Sie sind gerade von der Gorki hier angekommen…«

»Sie sollten in der Luft sein – und suchen! Wie lautet der letzte Wetterbericht?«

»Der Nebel über Target 5 wird voraussichtlich anhalten. Er erschwert die Suche…«

»Irrtum! Solange der Nebel anhält, können die Amerikaner Gorow nicht auf dem Luftwege in die Staaten bringen.«

Sie kamen jetzt zu einer Gruppe von Baracken. Von ihren Dächern hingen meterlange Eiszapfen, die bis zum Frühling nicht schmelzen würden. »Sie werden versuchen, ihn über das Eis herauszukriegen – zur grönländischen Küste hin«, dachte Papanin halblaut vor sich hin. »Wir werden ein Netz von Männern über das Eis westlich von Target 5 auswerfen und ein Netz von Hubschraubern über ihnen in der Luft. Wir werden ihn schnappen, ganz egal, wer ihn deckt.«

»Ist das nicht zu gefährlich?«

»Wir haben die beste Entschuldigung. Gorow ist ein Verrückter, ein Mörder – er hat Marow getötet, einen unserer Ozeanographen. Er ist schon lange in der Arktis, er ist übergeschnappt.«

»Ich verstehe nicht…«, begann Minsky. »Marow war vom Sicherheitsdienst…«

»Sie sind so unglaublich begriffsstutzig«, fauchte Papanin. »Marow ist in diesem Augenblick Ozeanograph geworden – Gorow ist ein Krimineller, der einen seiner eigenen Kollegen getötet hat, und wir müssen ihn festnehmen. Das macht aus einem politischen Fall eine Angelegenheit der Polizei.« In Papanins Stimme lagen Wildheit und Übermut. Hier, unter freiem Himmel, war er in seinem Element. Dies war derselbe Sibirier, den man vor zehn Jahren damit beauftragt hatte, die Beseitigung der russischen Raketen aus Kuba zu beschleunigen. Seine direkte Methode war charakteristisch für ihn: Er hatte gedroht, die Raketen über der Insel in die Luft zu jagen, falls die Kubaner nicht kooperierten. Nach zehn Jahren hatte er seine wilde, gewandte Art nicht verloren.

»Eine Angelegenheit der Polizei?« meinte Minsky nachdenklich, als sie bei den Baracken angekommen waren. »Macht das einen Unterschied?«

»Ja! Es bedeutet, daß es gerechtfertigt ist, auf Gorow und jeden, der bei ihm ist, zu schießen, wenn wir wollen. Schließlich ist Michael Gorow ein gemeingefährlicher Wahnsinniger.« Papanin schlug einen Eiszapfen vom Dach. »Minsky, wir sind im Begriff, auf Menschenjagd zu gehen.«

 

 

Wenige Minuten nach seinem Treffen mit Beaumont in Curtis Field war Dawes wieder in der Luft, diesmal als Passagier einer zweisitzigen Cessna, die von einer an der Klippe endenden Startbahn abhob. Der Pilot, Arnold Schumacher, der es nicht ausstehen konnte, hohe Tiere zu fliegen, steuerte die Maschine von Grönland weg auf die offene See zu. Während das Flugzeug pfeilgerade nach Osten flog, sahen sie unter sich die Eiskappe, die mit dem Packeis verschmolzen und mit dem Festland verbunden war.

»Sie sollen Target 5 nicht finden«, brummte Dawes, »tun Sie nur so, als würden Sie es suchen. Ich will mir die Wetterlage ansehen.«

»Schlimm – Herr General«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand über das Eis bis zum Stützpunkt kommen soll. Wenn der Nebel sich verzieht, fliegen wir hin, wie üblich.« Er schob seinen Kaugummi in die andere, Rawes abgekehrte Backe.

»Das ist das Schlimme mit euch hier oben. Ihr verlaßt euch nur noch auf Motoren und Maschinen. Sie können sich nicht vorstellen, daß jemand sich über das Packeis durchkämpft. Wir haben keinen Mumm mehr, Schumacher – wohin PanAm nicht fliegt, da wollen auch wir nicht hin.«

»Ich bin nicht PanAm…«

»Und nehmen Sie gefälligst den Kaugummi aus dem Mund, wenn Sie mit mir reden.«

Du kannst mich mal, Freundchen. Trotzdem zog der Pilot diesen Typ des Vorgesetzten vor. Sie versuchten wenigstens nicht, sich zu verbrüdern und einem vorzumachen, daß sie auch nur einer von ihnen wären. Dabei betrug ihr Sold das Zehnfache von ihrem eigenen. Die Cessna flog in siebenhundert Meter Höhe durch die kalte Mondnacht – eine Mücke aus Metall über der Arktis. Aus der Höhe erschienen die aufgeschobenen Eisrücken abgeflacht, und das Packeis sah aus wie eine Platte aus durchsichtigem Glas, rissigem und gesplittertem Glas. Die Wetterlage war mehr als schlimm. Eine halbe Stunde später hing Dawes halb aus seinem Sitz und sah angestrengt in das trübe Grau unter ihm, ein massives Meer wogenden Nebels, der das kompakte Eis darunter verschleierte. Ein gedrungener, kugeliger Käfer unter einem schwirrenden Luftwirbel flog ihnen entgegen. Dicht über der Nebelbank strich er dahin. »Haben Sie das gesehen?« entfuhr es Dawes.

»Hubschrauber. Russisch.« Der Pilot dachte gerade an den Klumpen Kaugummi, den er unter seinen Sitz geklebt hatte.

»U-Boot-Jäger?«

»Ja«, sagte Schumacher.

»Muß von diesem sowjetischen Träger südlich des Eises sein. Den möchte ich mir aus der Nähe ansehen. Stürzen Sie!«

Schuhmacher war verärgert wegen des Kaugummis. Alle Generäle können mich mal. Sie sollten abgeschafft werden. Die Steuern auch. Also stürzte er, fiel hinab wie eine Bombe. Aber Dawes war darauf gefaßt und saß fest in seinem Sitz. Der russische Hubschrauber war weniger als tausend Meter entfernt. Auf dem Nebelmeer schwamm er ihnen entgegen, während die Cessna fiel und fiel und der Nebel aufwärts fegte. Der Ruck, mit dem Schumacher die Maschine auffing, hätte Dawes umhauen können, aber wieder war er auf den Stoß gefaßt. Sie waren jetzt etwa hundert Meter über dem Hubschrauber. Dann verschwand er, fiel hinab in den Nebel.

»Verdammt!« Dawes war ärgerlich. »Ich frage mich, warum er sich so schnell aus dem Staube macht. Schon mal früher einen von denen hier gesehen, Schumacher?«

»Noch nie so weit westlich – jedenfalls nicht dieses Modell. Wir sind jetzt über Target 5 hinaus, irgendwo da unten in der Grütze«, fügte der Pilot hinzu. Die Grenze der Nebelbank war in Sicht, und das Packeis dahinter schimmerte wie ein Band aus Kristall zu ihnen herüber. »Sind jetzt ganz in der Nähe der russischen Basis Nordpol 17, Herr General.«

Schumachers unerwartete Zugänglichkeit verblüffte Dawes. »Ich will sehen, was sie vorhaben. Beunruhigt Sie das?«

»Sie werden uns daran hindern – schicken eine Maschine und fliegen ganz nah ran. Bin fast einmal mit einer kollidiert, ungefähr hier. Sie haben es nicht gern, wenn wir auf gute Nachbarschaft machen. Bleiben Sie dabei, Herr General? Da ist sie schon.«

Ein grün-phosphoreszierendes Blitzen auf dem Eis zeigte ihnen den Landestreifen und deutete darauf hin, daß er unmittelbar benutzt wurde. Die Gebäude konnten sie noch nicht sehen. Statt dessen aber kam in diesem Augenblick etwas anderes in Sicht. Dawes beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen. »Großartig abgepaßt! Dafür haben Sie sich fast einen Orden verdient…« Ein aus der Entfernung kleiner, teuflisch aussehender Schatten glitt aus den Wolken, mit der Nase nach unten gerichtet, herab und hinterließ einen bleistiftdünnen Kondensstreifen als Spur. Ein Bison-Bomber landete auf Nordpol 17.

»Zurück, Herr General?«

»Noch nicht!«

Ein Bison-Bomber! Höchst interessant! Die Russen verwendeten den Bison nicht als Transportmittel für die Arktis. Aber in einem Notfall würden sie ihn sicher einsetzen, um schnell von Murmansk hierher zu gelangen, um einen Mann einzufliegen – oder eine Menge Männer. Der Bison fegte hinunter auf den Boden, fegte zwischen den Lichterreihen hindurch. Jetzt konnte Dawes auch die Gebäude erkennen, eine winzige Gruppe dunkler Kleckse. Der sich bewegende Fleck zwischen den Lichtern kam zum Stillstand, die grünen Lichter verschwammen und erloschen.

»Sie haben uns angepeilt«, warnte Schumacher. »Jetzt werden sie eine Maschine schicken.«

»Nicht, wenn sie die Lichter gelöscht haben. Schauen Sie nach unten.«

Aus zweihundertfünfzig Meter Höhe sahen sie ganz deutlich die winzigen Schildkröten, die über das Eis krochen. Sechs Schneekatzen kamen westlich der sowjetischen Insel direkt auf Target 5 zu. Sie schienen sich kaum zu bewegen, aber die Raupenketten hinterließen verräterische Spuren im Schnee, Furchen, die von Nordpol 17 wegführten. Diese – und der Bison-Bomber – gaben den Ausschlag für Dawes’ Entscheidung.

»Zurück«, sagte er, und Schumacher reagierte augenblicklich, drehte bei vollem Tempo ab und zog in die Höhe. »Nehmen Sie Funkverbindung mit Curtis Field auf…«

»Ist stark gestört…«

»Sie müssen! Versuchen Sie es so lange, bis Sie durchkommen. Senden Sie das eine Wort, immer und immer wieder: Nitrogen. Haben Sie? Nitrogen…« Es war das Kodewort, auf das Beaumont wartete, das Signal für ihn, nach Target 5 aufzubrechen.

 

 

Sonntag, 20. Februar: sechzehn Uhr

Montag, 21. Februar: Mitternacht

 

Die zwei Sikorsky-Hubschrauber fielen senkrecht, wie an einem Kabel herabgelassen, etwa zweihundert Kilometer von der Küste Grönlands entfernt, auf das Eis hinab. Es war ein kritischer Moment – jede Landung auf unbekanntem Eis ist kritisch. Zum einen kann man aus der Luft nicht sehen, ob es sich um festes Eis handelt – es kann ziemlich solide aussehen, aber sobald die Kufen aufsetzen, bricht das Eis ein, und die Maschine versinkt im Ozean. Andererseits könnte die Maschine, wenn sie nicht auf ebenem Untergrund aufsetzt, in eine Schräglage kommen und umkippen.

Dann schlagen die wirbelnden Drehflügel als erstes auf das Eis. Versucht die Besatzung auszusteigen, könnte sie auf der Stelle von den Stahlflügeln zerhackt werden – es sei denn, die Treibstofftanks detonieren vorher. In diesem Falle würde die Besatzung verbrennen.

Deswegen wartete Beaumont mit einer gewissen Spannung auf den Ruck, mit dem sie auf das Packeis aufsetzen würden. Vom Beobachtersitz neben dem Piloten aus verfolgte er mit professionellem Interesse die Bewegungen der Hand an dem Steuerknüppel, der den Abstieg regulierte. Die Hand schien sehr ruhig. Er warf einen Blick auf das Gesicht des Piloten, beziehungsweise auf das, was er unter Helm, Brille und Kopfhörer von ihm sehen konnte. Das Gesicht schien ebenfalls ruhig, aber seine Lippen waren zusammengepreßt. Der Pilot Rainer biß die Zähne zusammen und wartete auf den Aufprall.

Hinter Beaumont saß Sam Grayson auf einem Notsitz. Außerdem waren neun Hunde an Bord, neun winselnde Hunde, die den plötzlichen Abstieg nicht mochten. Unter all dem Gedränge war auch ein Schlitten verstaut. Horst Langer kam mit einem zweiten Schlitten und weiteren Hunden in einer anderen Maschine herunter, die Beaumont hinter der Plexiglaskuppel sehen konnte. Er sah auf die Uhr. Rainer hatte gesagt, sie würden in dreißig Sekunden auf das Packeis auftreffen. Noch zwanzig Sekunden.

»Würden Sie unter normalen Umständen hier eine Landung riskieren?« hatte Beaumont vor ein paar Minuten gefragt.

»Nein!« Rainers Antwort war beunruhigend direkt. »Aber ich habe den Befehl, Sie auf Biegen und Brechen abzusetzen. Also müssen wir es wagen, oder etwa nicht?«

Beaumont rückte seinen Kopfhörer zurecht. Alles bebte – der Boden unter seinen Füßen, die Kuppel, die Steuerknüppel, die Rainer bediente. Beaumont legte eine Hand auf den Hund an seiner Seite und spürte die Vibration durch das Fell des armen Tieres. Gegen Transportflugzeuge hatten Hunde nicht das geringste; aber Hubschrauber haßten sie. Sie stiegen weiter ab. Rainer regulierte den Drehgashebel des Steuerknüppels. Noch zehn Sekunden. Vielleicht nur noch zehn Sekunden zu leben.

Sie waren jetzt tief genug, um das Eis hinter der Kuppel zu sehen. Es war ein verschwommener, aufgewühlter Wirrwarr, wie plötzlich gefrorene See – verschwommen, weil die Kuppel von innen beschlagen war. Das Beben der Kanzel, ein schwindelerregendes Zittern, suggerierte die ungemütliche Vorstellung, daß die ganze düstere Wildnis aus knorrigem Eis schlingere. Sobald sie die Tür öffneten, würde die Temperatur um vierzig oder fünfzig Grad fallen und ihnen den Atem verschlagen. Falls die Maschine sicher landete und nicht umkippte.

Die skiähnlichen Kufen unter der Sikorsky mußten zur Standfestigkeit beitragen. Es sei denn, eine Kufe rutschte und die andere versank. Rainer blickte zu Beaumont, der ihm zuzwinkerte. Der Pilot zwinkerte nicht zurück, und Beaumont sah die ausdruckslosen Augen hinter der Brille. Rainer hatte Angst. Dann berührten die Kufen das Eis.

Die Maschine schwankte. Beaumont fühlte, wie sie auf seiner Seite absank. Weiches Eis backbord, hartes Eis steuerbord. Rainers Hand umklammerte den Steuerknüppel. Scheiß auf diesen Ausflug – er hätte sich krank melden sollen. Die Hunde spürten eine Katastrophe und begannen erbärmlich zu winseln. Die Rotorblätter wirbelten noch und peitschten die Luft. Sie hatten das Gefühl, immer noch zu sinken. Die Spannung in der Kabine war fast mit Händen zu greifen; die drei Männer schwitzten Blut. Dann saß die Maschine fest, das Sinken hörte auf. Rainer stellte den Motor ab und hob die Brille. Schweiß rann von seinem Gericht.

»Prima Landung«, sagte Beaumont, während er den Kopfhörer absetzte und nach der Tür griff.

»Warten Sie…!«

»Ich warte – bis die Blätter stehen.«

Das war nicht notwendig, wenn man beim Aussteigen den Kopf einzog. Aber Rainer wußte nicht, daß Beaumont Hubschrauber über die ganze Arktis geflogen hatte. Beaumont öffnete den Ausstieg, und die Arktis traf ihn wie ein Messer. Er sprang auf das Eis und entfernte sich ein wenig steif von der Maschine. Gleichzeitig hielt er nach Langers Sikorsky Ausschau. Beunruhigt sah er, daß sie auf ein Gelände voller Eisrücken zusteuerte. Sie würde eine Bruchlandung machen.

Grayson ließ die Hunde heraus. Vor lauter Freude über die wiedergewonnene Freiheit bellten sie und tollten um die Maschine herum. Etwas weniger als einen halben Kilometer östlich hing die Nebelbank unter dem Mondlicht – ein grauer Vorhang, wie eine schmutzige Wolke mit dem Eis verankert. Dann verschwand Langers Maschine hinter einem Eisrücken, einem drei Meter hohen Wall aus ineinandergeschobenem Eis. Die Maschine traf auf das Eis, und der undeutliche Schatten der rotierenden Scheibe stand waagerecht hinter dem Kamm. »Alles o. k.«, sagte Grayson mit heiserer Stimme hinter dem Engländer. »Einen Augenblick lang dachte ich…«

»Nichts ist o. k. – er kippt!«

Beaumont rannte über das Eis. Seine Stiefel knirschten auf der weichen Kruste, die unter ihm zerkrümelte. Das ganze Terrain war frisch zugefroren und daher besonders gefährlich und unsicher. Beaumont rannte, so schnell er konnte, ohne auszugleiten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die rotierende Scheibe über dem Eiskamm war nicht mehr waagerecht, sondern legte sich zur Seite. Er lief durch eine Lücke in dem Eiswall und sah, daß Langers schnelles Reaktionsvermögen bereits auf die Notsituation reagiert hatte. Die Luke stand offen, die Hunde purzelten auf das weiche Eis und rannten auf die Lücke zu. Ihre Beine waren von dem Eisbrei, in den sie gesprungen waren, dunkel verschmiert.

Die Sikorsky bot einen ungewöhnlichen Anblick. Ihre Backbordkufe war bereits nicht mehr zu sehen, die Streben sanken ein, und die Maschine krängte, während die Rotorblätter noch auf vollen Touren kreisten. Gefährlicher hätte es kaum sein können. Beaumont lief weiter; er fragte sich verwundert, was der Pilot vorhatte, warum er den Motor nicht abgestellt hatte. Langer erschien und hievte das eine Ende des Schlittens an die Luke, um ihn hinauszustoßen. »Laß doch den Schlitten!« schrie Beaumont; aber seine Warnung ging in dem fürchterlichen Dröhnen unter. Er sprang hinauf, zog sich in die Kanzel, in der Jakowski, der Pilot, hinter den Armaturen saß, langte hinüber und stellte den Motor ab.

»Ich fliege los«, rief der Pilot.

»Wenn Sie den Motor wieder anstellen, schlage ich Sie windelweich«, brüllte Beaumont ihn an. »Unser Leben hängt von diesem Schlitten ab – packen Sie lieber an. Die Maschine ist ersetzbar, wir nicht.« Er wandte sich Langer zu, um ihm zu helfen. »Vorsichtig, Horst, der Boden draußen ist der reinste Schwamm…« Er sah Grayson unter der Luke auftauchen. »Sam, paß auf, daß er nicht einsinkt…«

»Beeilt euch – ich breche ein«, rief der Amerikaner.

Sie mühten sich mit dem schwerbeladenen Schlitten ab, schoben ihn über den Rand, und Beaumont sprang hinaus, um Grayson zu helfen. Die Sikorsky schien vorübergehend gesichert, war aber stark gekippt, als sie den Schlitten vorsichtig herabließen und auf dem Eis abstellten. Augenblicklich sank er ein, aber Grayson und Langer griffen nach dem Geschirr und zogen ihn auf festeren Grund in der Nähe der Lücke. Beaumont schaute nach Jakowski, der immer noch in seinem Pilotensitz saß.

»Wenn Sie dort sitzen bleiben, gibt das einen schönen Sarg für Sie ab. Sie sinkt weiter.«

»Ich werde versuchen, sie rauszuholen.«

»Sehen Sie sich das besser erst an – oder wollen Sie, daß jemand Ihre Versicherungsprämie kassiert?«

Jakowski stieg unendlich vorsichtig auf den Boden hinunter, fühlte, wie seine Stiefel einsanken, und lief schnell auf Beaumont zu, wo das Eis fester war. Der Hubschrauber hatte sich fast wieder zur Horizontale aufgerichtet, da die Steuerbordkufe inzwischen genauso tief gesunken war wie die Backbordkufe. Er steckte knietief in dem dunklen Eismatsch. »Jetzt haben wir noch das Problem, ihn loszuwerden«, sagte Beaumont ungerührt. »Er muß entweder rauf oder runter. Wir dürfen ihn nicht als Wegweiser hier stehenlassen, damit ein russischer Hubschrauber sieht, wo wir in den Nebel eingestiegen sind. Wenn wir den Motor anlassen, wird die Vibration ihn nach unten ziehen.«

»Das ist Staatseigentum«, sagte der Pilot aufsässig. »Er gehört dem arktischen Forschungslabor in Point Barrow. Wir können eine Truppe holen, um ihn auszugraben…«

»Er geht rauf oder runter«, brach Beaumont die Diskussion ab, »also bringen Sie sich lieber in Sicherheit, bevor ich ihn starte.«

»Keith, das ist verdammt gefährlich«, protestierte Grayson, der zurückkam, um zu sehen, was los war. »Wenn er zu schnell absinkt und du noch drinnen bist…«

Beaumont kletterte schon vorsichtig in die Kanzel, wobei er prüfte, was sein Gewicht bewirkte. Da nichts passierte, setzte er sich in den Pilotensitz und schaute hinaus. Er wollte sichergehen, daß die anderen weit genug abseits standen. Jakowski war bis zu der Lücke gegangen, Grayson wartete außerhalb der Spannweite der Flügel. Normalerweise hätte Beaumont niemandem empfohlen, unter diesen Umständen den Motor zu starten, aber die Maschine mußte verschwinden – entweder in die Luft oder unter das Eis.

Möglicherweise konnte er die Maschine freibekommen, sie hochziehen und neben der anderen Sikorsky landen. Alles hing ab von der Zugkraft, mit der der Schneematsch die Kufen umklammerte. Wahrscheinlicher war, daß die Vibration die Kufen schüttelte und tiefer in den Schneematsch hineinmanövrierte. In diesem Fall mußte er fluchtartig das Weite suchen, um nicht mit der Maschine hinabgezogen zu werden. Er startete den Motor.

Einen Augenblick dachte er, er hätte es geschafft, er könnte sie herausholen. Die Maschine schwankte, und er spürte das kraftvolle Ziehen; aber dann sank sie wieder und fiel plötzlich sehr schnell nach Backbord. Er warf sich zur Tür und sprang hinaus, rutschte auf dem Eis aus und lag flach ausgestreckt unter der kippenden, sinkenden Maschine. Er war in eine Art Presse geraten – zwischen das Eis unter sich und die wirbelnden Drehflügel, die auf ihn herabsackten. Er raffte sich auf, kniete im Matsch, fühlte, wie der Eisbrei an seinen Stiefeln saugte und ihn festhielt. Das Schlagen der herabsinkenden Rotoren machte ihn taub, der Eisbrei klammerte sich um seine Stiefel. Beaumonts Hände tasteten nach festerem Grund, um sich freizuziehen.

Mit Graysons Hilfe, der seine Hände umklammerte und wildentschlossen zog, kam er frei. Er bog die Zehen nach oben, damit seine Stiefel nicht abgestreift würden. Dann trotteten sie, so schnell es ihre Hockstellung erlaubte, davon. Die rasenden Flügel waren kaum einen Meter über ihnen, und sie fühlten das Hämmern des starken Windes auf ihren Nacken. Tiefgebückt rannten sie Seite an Seite auch dann noch, als sie Meter weiter außer Reichweite des wilddreschenden Metalls waren.

An der Lücke angelangt, drehten sie sich um und hörten den Motor husten und sich verschlucken. Schließlich erstarb das Geräusch völlig. Der Rumpf saß jetzt auf dem Eis. Der Motor hatte die zähflüssige Masse eingesogen. Die Schwungkraft ließ die Rotorblätter weiterwirbeln. »Geht hinter dem Eisrücken in Deckung«, warnte Beaumont, der den Augenblick kommen sah, in dem die Flügel losbrechen und über das Eis zischen würden. Aber die Warnung war überflüssig. Da der Rumpf jetzt langsamer einsank, liefen auch die Rotorblätter allmählich aus und bewegten sich kaum noch, als sie auf das Eis trafen. Sie schleuderten große schwarze Klumpen über das Eis, dann kamen sie zur Ruhe. Der Eisbrei öffnete sich, die Sikorsky versank mit einem ekelhaft schmatzenden Geräusch. Der Brei schloß sich wieder über ihr.

»Das war Staatseigentum«, murrte Jakowski wieder.

»Sag ihnen, sie sollen sich einen Goldbarren aus Fort Knox holen«, schlug Beaumont vor.

Die Reaktion der Mannschaft auf die Krise war verlangsamtes Tempo; aber Beaumont machte dem ein Ende und drängte jeden einzelnen, sich schneller zu bewegen, den zweiten Schlitten aus der erhaltenen Sikorsky zu holen und die Hundgespanne anzuschirren, um zu verschwinden, bevor ein russisches Flugzeug auftauchte. »Wir müssen in fünfzehn Minuten in der Nebelbank sein, wo wir unsichtbar sind…« Mit den Piloten gab es noch ein Nachspiel, bevor sie abflogen.

»Wir werden melden müssen, was mit dem Hubschrauber passiert ist«, rief Rainer aus seiner Maschine.

»In dreifacher Ausfertigung«, rief Grayson zurück. »Vergiß nicht, sie legen Wert auf dreifache Ausfertigung!«

Jakowski knallte die Tür vor seiner Nase zu, während Rainer die Maschine startete. Fünf Minuten später waren die zwei Schlittengespanne fertig, die Hunde angeschirrt und startklar. Die Sikorsky war bereits auf ihrem Flug zurück, löste sich auf im Dunkel und war verschwunden. Das Gefühl der Isolation überfiel die drei Männer in dem Augenblick, als die Maschine fort war. Das unheimliche Schweigen der arktischen Wildnis war überwältigend.

Sie waren allein auf dem Eis, hundertfünfzig Kilometer von Grönland entfernt, ein Stecknadelkopf auf dem Eismeer – drei Männer, achtzehn Hunde und zwei Schlitten. Das Eis unter ihren Füßen war vielleicht dreißig Zentimeter dick, ausgenommen die Stellen, die so dünn waren, daß das Gewicht eines einzigen Hundes es einbrechen konnte. Er würde in dem eisigen, schwarzen Wasser versinken, auf dem sie trieben. Das Eis ruhte scheinbar. Tatsächlich aber bewegte es sich fortwährend. In dem starken Grönlandstrom verfangen, driftete es mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzehn Kilometern pro Tag nach Süden in Richtung Eisberg-Gasse. Unter der schlammigen Eiskruste, die den Ozean überzog, stürzte das Wasser mehr als dreitausend Meter tief hinab.

Beaumont übernahm die Führung des Leitgespanns von Grayson. »Wir müssen los«, sagte er. »Ich habe keine Ruhe, bis wir im Nebel sind.«

»Das sieht außerordentlich einladend aus«, meinte Langer mit einem trockenen Lächeln. Der achtundzwanzig Jahre alte Deutsche hatte zwei Jahre in London verbracht, und Beaumont äußerte wiederholt, daß sein Englisch korrekter sei als sein eigenes. »Es sieht in der Tat aus wie eure berühmte Londoner Waschküche.«

»Ist halb so schlimm, wenn wir drinnen sind«, antwortete Beaumont. Sie zogen los. Der Start machte immer besondere Mühe. Man mußte in der bitterkalten arktischen Nacht die Hundegespanne und die eigenen widerstrebenden Beine in Bewegung bringen. Horst hat recht, dachte er, während er mit einer Hand die Peitsche und mit der anderen die Lenkstange des Schlittens hielt. Der Nebel sah verdammt ungemütlich aus.

Die Nebelbank hing über dem Eis wie eine Drohung aus dichtem grauem Dunst, der sich hoch über dem Eis auftürmte und am Boden zu kleben schien. Es war eiskalt, aber windstill; daher bewegte sich der Nebel kaum. Er schwebte wie eine Wolke über dem Eisplateau, eine Wolke, die eine Unzahl von Gefahren in sich bergen konnte. Am meisten befürchtete Beaumont die Gefahr der Bewegung – eine Bewegung, die, während sie im Nebel waren, das Eis erneut aufreißen und dabei Wasserrinnen bilden konnte.

Möglicherweise preßte die Bewegung dann das Eis wieder zusammen und schob dabei Ketten von Eishügeln auf, die einen Mann zermalmen oder sogar ein ganzes Hundegespann in Sekundenschnelle unter sich begraben konnten. Er knallte mit der Peitsche, spornte das Gespann an, und die Hunde liefen schneller. Mit gestreckten Beinen warfen sie sich ins Geschirr und zogen den Schlitten hinter sich her.

Das tödliche Schweigen des Eises war nun gebrochen durch Lärm, von Menschen verursacht – das Knarren des Geschirrs, das Zischen der Gespanne, die über das Eis jagten, das Knirschen der nachgebenden Schneekruste, das Knallen von Peitschen und das Stampfen der Stiefel, die auf festes Eis trafen. Sie waren auf dem Weg – zur Nebelbank, unterwegs nach Target 5, das irgendwo dort in dem Nebelmantel verloren lag. Beaumont führte das Leitgespann, Langer das zweite dahinter, während Grayson, einige Schritte vor ihnen auf dem Eis, den Kompaß beobachtete.

»Er ist schon gestört«, rief er. Das war ein Weiteres Problem: In diesem Teil der Welt waren Kompasse notorisch unzuverlässig.

Langer hatte keine Schwierigkeiten, Beaumonts forciertes Tempo mitzuhalten. Bismarck, sein Leithund, war ein großes zähes Tier, das die anderen Hunde auf Trab hielt – der Beaumont unter den Hunden. Horst Langer, einsachtundsiebzig groß, dunkelhaarig und glattrasiert, war Rheinländer, ein fröhlicher, unbeschwerter Mann mit Sinn für Humor, hinter dem sich eine enorme Widerstandskraft verbarg. Abgesehen davon, daß er Sprengstoffexperte war – das war die Voraussetzung für die Arbeit bei Tiefenmessungen –, konnte er auch großartig mit Hunden umgehen. Beaumont hatte gesagt: »Mit Horst würden sie dort über dünnes Eis fliegen, wo sie sonst zurückschrecken würden.« Er war in Düsseldorf geboren, noch Junggeselle – »Bei so vielen attraktiven Frauen, wie kann man sich da für eine einzige entscheiden?« – und hatte vier Jahre auf amerikanischen Stützpunkten in der Arktis gearbeitet. Wie die anderen beiden Männer hatte er die Unbedenklichkeitsbescheinigung Stufe eins aus Washington.

»Ist was los, Keith?« rief er.

Beaumont hatte sein Gespann angehalten und stand da, den Kopf zur Seite geneigt. »Dachte, ich hätte was gehört. Bleibt einen Augenblick mal ganz ruhig.«

Sie warteten. Die Hunde zerrten ungeduldig in den Geschirren. Nichts schien es zu geben außer dem tonnenschweren Schweigen der Arktis, das auf ihnen lastete. Beaumont, in Pelzparka und Pelzmütze, stand riesig und still im Mondlicht da und richtete seinen Kopf wie eine Radarantenne nach Osten. Die Nebelbank war jetzt sehr nah, nur noch ein paar hundert Meter entfernt, eine schmutzige Wolke, wie stehender Rauch. Dann hörte Beaumont es wieder, das schwache Pochen eines schweren Hubschraubers, das stärker wurde und Sekunde um Sekunde näher kam.

»Rennt los! Rein in den Nebel, bevor sie uns sehen…«

Die Dringlichkeit in seiner Stimme teilte sich den Hunden von selbst mit. Die Peitschen knallten, die Schlitten schoben sich vorwärts, und das Motorengeräusch raste ihnen entgegen. In Wirklichkeit aber flogen sie ihm entgegen und erwarteten jeden Augenblick, den Hubschrauber über dem Rand der Nebelbank auftauchen zu sehen. Bismarck holte aus sich heraus, was er konnte. Seine Beine flogen über das Eis, Beaumont auf den Fersen, während die Schlitten über Unebenheiten schlingerten und die Männer dahinter kämpfen mußten, um die Gespanne aufrecht zu halten. Ein Sturz in diesem Augenblick würde die Katastrophe bedeuten und sie auf dem offenen Gelände festhalten, bis es zu spät war. Grayson rannte neben Beaumont her, bereit, die Lenkstange zu packen. Das Rattern des Hubschraubers war sehr nah. Rat-tat-tat… Beaumont knallte mit der Peitsche, um die Hunde noch stärker anzutreiben. Dabei kämpfte er mit dem bockenden Schlitten, der außer Kontrolle zu geraten drohte. »Dünnes Eis!«

Als Grayson schrie, lenkte Beaumont den Schlitten bereits an einer Senke vorbei, durch deren trügerisch glattes Eis es dunkel heraufschien. Das Geräusch des Hubschraubers war zu einem Trommelwirbel geworden. Also flog er sehr tief, nur etwa hundert Meter hoch. Der Schlitten verfing sich an einer Eisrippe, kippte nach backbord; aber Grayson konnte ihn wieder aufsetzen, während Langer hinter ihnen einen Bogen schlug, um das Hindernis zu umfahren. Zum drittenmal knallte Beaumont mit der Peitsche über ihren Köpfen, und sie jagten vorwärts. Er glaubte, etwas über sich zu sehen, als sie in den Nebel tauchten. Dann war sein Gespann wie von einem unsichtbaren Rachen verschluckt, Langers Schlitten dicht hinter ihm, und als sich der Nebel um sie schloß, war es, als tauchten sie in eine mondlose Nacht. Er hüllte sie ein, streifte feuchtkalt ihre Gesichter und verschleierte die Hundegestalten, die nur wenige Meter von ihnen entfernt waren. Beaumont zog an der Lenkstange, brachte die Hunde zum Stehen und schaute aufwärts in den Dunst. Das Motorengeräusch war gedämpft und klang, als wäre es direkt über ihnen.

»Ich glaube, es ist ein Russe«, sagte Grayson atemlos.

»Könnte eine Routinepatrouille sein«, meinte Langer. »Nordpol 17 ist nicht weit entfernt – für einen Hubschrauber jedenfalls nicht. Sie stecken ihre Nase immer in unsere Angelegenheiten.« Das Motorengeräusch war noch immer über ihnen. Es gab ihnen das unheimliche Gefühl, daß man sie sehen könnte. Das aber war unmöglich.

»Er kreist«, zischte Beaumont.

»Es könnte trotzdem Routine sein. Oder er sucht Gorow.«

»Oder auch uns«, antwortete Beaumont, »wenn Tillotson nach Leningrad durchgedrungen ist.«

 

 

»Fünfzehn Jäger…«

Papanin stand vor dem Hauptquartier, als der letzte Hubschrauber auf der vom Mond erleuchteten Piste landete. Die Zwillingsrotoren drehten sich schwindelerregend. Das Pfeifen der Düsen erstarb. Sie standen in einer Reihe aufgestellt – gedrungene, knollige Silhouetten im Mondlicht, wie dickbäuchige Krähen. Es waren U-Boot-Jäger, soeben von dem sowjetischen Träger Gorki eingeflogen. Die Ortungsgeräte unter den Kuppeln glichen Eiterblasen. Je ein Düsenbehälter hing wie eine Bombe backbord und steuerbord an jeder Maschine.

»Ich will, daß sie in dreißig Minuten in der Luft sind«, sagte Papanin zu Kramer. »Und dann bleiben sie dort oben – bis sie Gorow gefunden haben. Zum Auftanken können sie herunterkommen«, fügte er hinzu.

»Wir haben nur einen Piloten pro Maschine«, gab der Balte zu bedenken.

»Sehr wirtschaftlich«, war der einzige Kommentar des Sibiriers.

Dreißig Minuten später hob die Flotte der U-Boot-Jäger von der Piste ab, und Papanin beobachtete ihren Abflug. Es war eine dieser fünfzehn Maschinen, die Beaumont kommen hörte, als er die Schlittengespanne in die Nebelbank hineintrieb. Und eine dieser Maschinen fotografierte sie mit einem Teleobjektiv, bevor sie verschwanden.

Die ersten Stunden in der Nebelbank waren eine ereignislose Hölle für die drei Männer und ihre Hundegespanne – falls ereignislos angebracht ist als Attribut für eine Zeit, in der sie ständig um ihr Leben fürchteten. Denn sie konnten nicht einmal sehen, wohin sie gingen. Unter den gegebenen Bedingungen hätte Beaumont normalerweise auf jeden Fall angehalten, Lager aufgeschlagen und darauf gewartet, daß der Nebel sich verzog. Statt dessen trieben sie sich selbst gegenseitig voran, stolperten durch die feuchte Kälte, oft nicht in der Lage, weiter zu sehen als bis zu dem Leithund vor ihrem Schlitten. Wenn nicht einmal das mehr möglich war, ging Grayson langsam voraus, um den Untergrund zu prüfen. Die Hunde folgten dicht hinter ihm.

Wenn ihre Berechnungen stimmten, wenn die Positionsbestimmung, die Grayson, kurz nachdem sie aus der Sikorsky gestiegen waren, mit seinem Sextanten durchgeführt hatte, nur annähernd richtig war, lag die Eisinsel Target 5 nur wenige Kilometer östlich von ihrem Landepunkt. Aber Navigation in einem arktischen Winter ist nicht immer eine exakte Wissenschaft. Insgeheim hegte Beaumont Zweifel.

Die Spannung wuchs, als sie in dem Augenblick, als der Nebel sich lichtete, wieder einen Hubschrauber kommen hörten. Plötzlich war es heller, der Nebel über ihnen trieb davon, der schwache Schimmer des Mondes sickerte allmählich durch die Nebelschwaden. Die Maschine kam näher. »Halt!« Beaumont brachte seinen Schlitten zum Stehen. »Versucht, die Hunde ruhig zu halten. Sam, übernimm mal für eine Minute.« Beaumont nahm sein Nachtfernglas aus dem Futteral, das er an der Lenkstange befestigt hatte, und entfernte sich ein paar Meter von den Gespannen. Über ihm riß der Nebel auf. Er konnte den Mond selbst zwar nicht sehen, aber er bemerkte seine Helligkeit, als er durch das Fernglas in die Höhe schaute. Der Hubschrauber kam dröhnend näher, fegte in sein Blickfeld – eine riesige verschwommene Form, die überraschend tief flog und schnell vorbeizog, so schnell, daß er sie nicht in seinem Fernglas festhalten konnte. Aber er war sicher, daß es ein russischer Hubschrauber war.

Dann hörte er einen zweiten herankommen. Diesmal war er auf ihn vorbereitet, zumal er auf demselben Kurs flog wie der vorherige. Durch das Fernglas erhaschte er einen kurzen Blick auf ein Düsentriebwerk, den verschwommenen Helm eines Piloten, dann war er schon wieder außer Sicht. »U-Boot-Jäger«, informierte er Grayson kurz, als er zurück zu den Schlitten ging. »Und ein bißchen weiter entfernt ist noch einer. Ich glaube, sie umfliegen den ganzen Rand der Nebelbank, um alles zu beobachten, was hineingeht.«

»Oder was herauskommt.«

»Irgendwie ist das vielversprechend«, bemerkte Beaumont, während er den Schlitten wieder übernahm. »Ich glaube, Dawes hatte recht – Gorow ist bereits aufgebrochen. Normalerweise sieht man nicht so eine Menge sowjetischer Maschinen hier.«

»Vielversprechend auch für uns – falls sie nach uns suchen.«

Sie zogen weiter, oft begleitet von dem Geräusch eines Hubschraubers irgendwo über ihnen; aber der Nebel hatte sich wieder zusammengezogen, so blieben sie vor ihnen verborgen. Ihr Fortkommen wäre bei klarem Wetter schwierig gewesen – in diesem Nebel war es gefährlich. Das Eis war stellenweise aufgebrochen, vernarbt von Senklöchern, so daß die Schlitten ständig von einer Seite zur anderen torkelten, immer kurz vor dem Umschlagen. Und bald schmerzte Beaumonts Arm von der Anstrengung, die er beim Festhalten der rüttelnden Lenkstange aufbringen mußte.

Horst Langer erlitt ähnliche Schmerzen, Sam Grayson ebenso, aber auf andere Weise. Es bedeutete eine ungeheure Anspannung, den Hunden vorauszugehen, wenn der Nebel dichter wurde. Jeder Schritt, den er tat, konnte sein letzter sein. An Stellen, an denen sich Wasserrinnen aufgetan hatten, die den schwarzen arktischen Ozean freilegten, hätten sie im eisigen Wasser landen können.

Es wäre unangenehm im Sommer, wenn die Temperatur um den Gefrierpunkt schwankte. Im Februar, bei einer Temperatur von vierzig Grad Kälte, wäre es teuflisch, trotz ihrer Kleidung. Sie trugen lange wollene Unterwäsche, zwei Paar Socken übereinander in pelzgefütterten Stiefeln, zwei Wollpullover, eine pelzgefütterte Jacke und darüber einen Wolfsfellparka, den ein Pelzhändler aus Alaska angefertigt hatte, den Beaumont von Fairbanks kannte. Trotzdem froren sie, ihre Hände und Füße waren erstarrt und ohne Gefühl, der kleine, unbedeckte Teil ihrer Gesichter unter den Pelzkapuzen schmerzte. Er war immer feucht von dem haftenden Nebel, der sich auf sie legte, während sie sich vorwärts kämpften.

Da sie von Curtis Field so hastig aufgebrochen waren, hielten sie nach fünf Stunden, um etwas zu essen und zu trinken. Sie waren dankbar, daß die Hunde nur alle achtundvierzig Stunden fraßen. In dem kriechenden Nebel saßen sie auf ihrem Schlitten und aßen ihren Pemmikan, ein nahrhaftes Dörrfleisch, das im Geschmack an altes Leder erinnert. Das zermürbende Dröhnen eines nahen Hubschraubers begleitete sie während der ganzen Mahlzeit und machte sie gereizt.

»Warum geht das verdammte Ding nicht kaputt, warum geht ihm der Treibstoff nicht aus, oder es haut ab?« schimpfte Langer.

»Weil er auf Nordpol 17 aufgetankt hat«, brauste Beaumont auf.

»Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Warum fragst du dann so blöd?«

Das Entsetzliche passierte, während sie aßen. Beim Lärm der sowjetischen Maschine hatten sie nicht einmal etwas davon gemerkt. Am Ende ihrer Rast nahm Beaumont Graysons Kompaß und versuchte, die Nadel auszubalancieren. Der Hubschrauber hörte plötzlich auf zu kreisen und drehte nach Osten ab. Beaumont stand da mit dem Kompaß in der Hand, als er plötzlich aufsah und in die Ferne starrte. Etwas war selbst in der plötzlichen Ruhe, nachdem der Hubschrauber abgeflogen war, sehr schwach zu hören. Nur Beaumont hörte es – ein Geräusch, das er lieber nicht gehört hätte: das Schwappen von Wasser, ein sanftes Plätschern. »Ich bin gleich zurück«, sagte er beiläufig. »Bleibt genau wo ihr seid; und lauft nicht herum.«

In fünf Minuten war er zurück, und die beiden Männer ahnten offensichtlich nicht, daß etwas nicht in Ordnung war. Langer hatte seine Anweisung als Warnung aufgefaßt, nicht im Nebel herumzuspazieren; er stand bereits abmarschbereit hinter seinem Schlitten. Beaumont gab Grayson den Kompaß zurück. »Den wirst du eine Weile nicht brauchen«, sagte er ruhig. »Wir können sowieso nicht weiter. Wir treiben jetzt auf einer kleinen Scholle vom Eisfeld ab…«

»Das ist unmöglich«, platzte Langer. »Wir hätten es abbrechen gehört, das macht einen Mordskrach.«

»Du vergißt den Spektakel dieses Hubschraubers, und diesmal hat es beim Abbrechen eben nicht soviel Krach gemacht, jedenfalls nicht genug, daß wir es durch das Hämmern des russischen Motors hindurch gehört hätten.« Beaumont zeigte in den Nebel. »Egal, in welche Richtung man geht: man kommt keine dreißig Meter, ohne ins Wasser zu fallen. Wir sind ausgesetzt auf einer Scheibe Eis und treiben in einer breiten offenen Rinne. Wir finden uns besser damit ab – wir sind nicht mehr auf dem Packeis – wir sind auf See.«

Das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte, war geschehen. Das Eisfeld hatte eine breite Rinne gebildet, eine ausgedehnte Wasserstraße, die mehrere Kilometer breit sein konnte. Manchmal ist es der Wind, manchmal die fortwährende Strömung unter dem Eis, die das Eis bricht und auseinanderreißt. In diesem Falle waren sie vielleicht nahe dem Rand der Wasserrinne gewesen, als sie gerastet hatten, und ein Fragment, die Scholle, auf der sie nun abgeschnitten waren, hatte sich losgelöst. Früher oder später schließt sich eine solche Wasserrinne wieder, es sei denn, sie liegt in der Nähe der offenen See. In diesem Fall konnten sie auf den Ozean hinaustreiben und erfrieren.

Das Wiederzusammentreffen des Eises bereitete Beaumont Sorge. Er forderte die Männer deshalb auf, pausenlos wachsam zu bleiben. Das Aufeinandertreffen des Eises geht nicht gerade sanft vor sich. Das Eis schließt sich mit der Kraft eines Schraubstocks; es prallt aufeinander wie zwei stählerne Schiffe, die im Kollisionskurs aufeinandertreffen. Wenn zwei Eiskanten zusammenstoßen, klingt es wie tausend Böllerschüsse, ein entsetzliches Krachen, das man kilometerweit hören kann. Und wie die Stahlplatten eines Schiffes bäumt sich das Eis auf bei der Kollision. Durch die Wölbung und Verschiebung des zermalmten Eises werden riesige Eisrücken aufgeworfen, Eisrücken, die in Bewegung sind und eine Höhe von zehn Metern erreichen können. Die gewaltigen Brocken auf dem Kamm der Eisrücken zerbersten und stürzen herab, wobei sie alles, was ihnen im Weg liegt, plattwalzen. Und wenn die Eiskanten aufeinandertreffen, würde das treibende Floß zwischen ihnen eingesperrt sein und geknackt werden wie eine Nuß. Das war der Grund, weshalb sie wachsam sein mußten.

Damit sie die Gefahr rechtzeitig kommen sahen, postierte Beaumont Grayson und Langer an gegenüberliegenden Enden der kleinen Insel. An einem der Schlitten befestigten sie ein Seil, das sie zu beiden Beobachtungsposten auslegten, so daß sie, sobald sie das Eisfeld kommen sahen, durch den Nebel schnell zurückfinden konnten. Während die zwei Männer ihre Positionen wie Beobachtungsposten an Bord eines Schiffes einnahmen, fütterte Beaumont die Hunde. In einiger Entfernung von den Tieren zerschnitt er Walroßfleisch und warf es ihnen zu. Sie verschlangen es mit dem üblichen Mangel an Tischmanieren. Eine Fütterung war zu dieser Zeit zwar noch nicht fällig, aber er wollte, daß sie ruhig blieben.

Die Scholle setzte ihr unheimliches Driften in das Nichts fort. Sie spürten keine Bewegung – die Scholle war groß und die Nacht windstill; aber die Strömung trug sie ständig weiter südlich, fort von Target 5. Langer hockte am Rand des Eises. Er strengte sich an, mit den Augen den Nebel zu durchdringen. Eine verdammt hoffnungslose Aufgabe, dachte er; er konnte kaum zwei Meter weit sehen, dann blockierte der graue Dunst seine Sicht. Aber es war nicht ganz so hoffnungslos, wie es schien. Dem Herannahen des Eisfeldes, das wie eine bewegliche Plattform aus hartem, kompaktem Eis aus dem Nebel auftauchen würde, konnte sehr wohl eine Ankündigung vorausgehen: eine kleine Welle, die vor ihm hergeschoben wurde. Das erste Warnsignal dürfte der Moment sein, in dem das Wasser so stark über das Eis schwappen würde, daß es bis hinter seine Stiefel reichte.

Vor dem Nebel sah das schwarze Wasser aus wie Öl, das hier und da mit dem schmutzigen Glanz von dünnen Eisplättchen an der Wasseroberfläche bedeckt war. Die Temperatur betrug fast minus fünfundvierzig Grad, und das Wasser war ständig kurz vor dem Gefrieren; eine neue Eisschicht schien sich zu bilden. Das aber wurde durch die Strömung verhindert.

Er konnte weder die Schlitten noch die Hunde sehen. Als er über die Schulter zurückschaute, hatte er nur lauter schmutzigen Dunst vor Augen. Ein erschreckendes Gefühl der Isolation überfiel ihn.

Er konnte den Eindruck nicht loswerden, daß er sich selbst überlassen war, daß er auf einem Fragment trieb, das von ihrer Scholle abgesplittert und kaum größer war als eine Tischplatte.

Die Furcht zitterte an seinen Nervenspitzen. Er lauschte mit äußerster Konzentration. Wenn das Eis, auf dem er hockte, von der Scholle abbrach, mußte er ein warnendes Krachen hören. Vielleicht aber war es kaum wahrnehmbar. Sie konnten nicht wissen, wie stark das Eis war, auf dem sie trieben; wenn das Eis splitterte, müßte ein scharfes Knacken zu hören sein. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze saß Langer geduckt am Rand des Eises. In dieser Haltung sah er im Nebel aus wie ein zottiges Tier, und trotz der vielen Lagen von Kleidung und der zwei Paar Wollhandschuhe unter seinen dicken Handschuhen fühlte sein Körper sich an wie das Eis, auf dem er driftete. Seine Hände waren gefühllos, seine Füße schmerzten, sein Gesicht fror entsetzlich; aber die Furcht machte ihn wachsam. Dann hörte er ein Knacken.

Zitternd zwang er sich aufzustehen. Seine Beinmuskeln waren angespannt. Er war allein. Sein Eisbrett war von der Scholle abgebrochen. Wenn er nur zwei Schritte in irgendeine Richtung tat, würde er in das eiskalte Wasser stürzen, das ihn innerhalb von drei Minuten töten würde. In seiner Panik warf er sich herum. Vor seinem Gesicht hingen Nebelschleier. Er war vollkommen allein. Seine beiden Kameraden hatte er verloren. Er würde sie nie mehr wiedersehen. Eine blinde, grauenhafte Panik stieg in ihm auf. Er zitterte. Dann biß er die Zähne aufeinander. Reiß dich zusammen, um Himmels willen! Er stand ganz still, zitterte und versuchte, seine Panik zu überwinden. Da fühlte er plötzlich das Seilende, das er in seinem rechten Handschuh hielt und das er vergessen hatte. Er war noch mit der Scholle verbunden! Er hatte sich das Entsetzliche nur eingebildet! Müde sank er auf seine Fersen zurück, und seine eisverkrusteten Stiefel knarrten wieder, machten dasselbe Geräusch, das er vorhin gehört hatte. Er fühlte sich schwach vor Erleichterung und kam sich ziemlich albern vor. Die Anspannung machte sich schon bemerkbar; dabei waren sie erst weniger als eine Stunde gedriftet. Vierundzwanzig Stunden später schloß sich die Wasserrinne.

Beaumonts Uhr zeigte zweiundzwanzig Uhr dreißig. Die Scholle schaukelte und drehte sich langsam. Sie war in eine Gegenströmung geraten. Im Osten lichtete sich der Nebel. »Dort drüben wird’s heller«, stellte Langer fest. Er stand auf und zeigte in die Richtung. »Gott sei Dank, es wird heller. Vielleicht können wir etwas sehen…«

»Ich sehe schon etwas«, sagte Beaumont ernst. »Es sieht aus wie Land.«

Das Wort Land entfuhr ihm unbewußt, obwohl die verschwommene Linie, die er sah, nichts als Eis sein konnte – falls er überhaupt etwas sah. Wenn man für lange Zeit in den Nebel starrt, täuschten die Augen Berge und Bäume und andere unmöglichen Dinge vor, obwohl man genau wußte, daß nichts als Nebel sie umgab. Er schloß seine Augen und öffnete sie wieder. Der Nebel lichtete sich rasch, Mondlicht sickerte durch und wurde von der perlenden Feuchte reflektiert. Ja, er sah die schattenhafte Linie immer noch. Aber stand dieses verfluchte Ding fest? Wurden sie durch eine Richtungsänderung der Strömung allmählich auf feststehendes Eis zugetrieben? Er betete, daß es so war.

»Ich glaube, es kommt auf uns zu«, sagte Horst knapp.

Es lag nur etwa dreihundert Meter jenseits des Wassers – eine weiße Ebene, die aussah wie der Rand eines Kontinents. Vor ihm war die See schattig gekräuselt. Sie wurde von dem ungeheuren Eisfeld zurückgeworfen, das sich westwärts bewegte, westwärts auf das Eisfragment zu, das seinen Weg kreuzte. »Horst, bleib hier, und halt es im Auge. Ich will Sam warnen.«

Beaumont ging quer über die Scholle. Er rollte dabei das Seil auf, das sie jetzt nicht mehr brauchten. Der Nebel hatte sich so weit zerstreut, daß Beaumont Grayson sehen konnte, der in die entgegengesetzte Richtung schaute. Und fast von Minute zu Minute wurde der Nebel dünner. Er konnte jetzt mehrere hundert Meter über ruhiges Wasser auf der Westseite ihres Eisfloßes sehen. Dahinter war die Nebelwand so undurchdringlich wie vorher. »Das Eisfeld liegt hinter dir, Sam, es bewegt sich schnell in östlicher Richtung.«

»Es wird Schwierigkeiten geben.«

»Und ob es die geben wird. Die Hunde sind eingespannt, es sieht aus, als würden wir schnell hinüberspringen müssen. Du bleibst besser hier, für den Fall, daß noch etwas Unvorhergesehenes passiert. Wenn ich rufe, komm blitzschnell, so schnell wie du nur irgend kannst.«

Für den Fall… Mehr zu sagen war unnötig. Beaumont befürchtete, daß die ganze Rinne sich schließen würde wie eine Eisklaue. Es war die erneute Bewegung der Scholle, die ihm nicht behagte. Sie drehte sich langsam im Kreis, was bedeutete, daß mehr als eine Strömung im Spiel war. Er blieb noch einen Moment bei den Hunden und ging danach zurück zu Langer, der unverwandt nach Osten blickte.

»Sieh dir die Welle an«, sagte der Deutsche.

Das gekräuselte schwarze Wasser war zu einer Welle geworden, einer kleinen Welle zwar nur, aber sie war die Vorwarnung für den ungeheuren Druck vom dahinter liegenden Eisfeld, das mit der Wucht von Millionen Tonnen Packeis auf sie zusteuerte. Der Nebel war noch lichter geworden, weiter hinten auf dem Eisfeld war er jedoch nach wie vor undurchdringlich. Die Ebene bewegte sich auf sie zu wie eine flache Küste aus aufgewühltem Eis und gefrorenen Eiskämmen.

»Keith…!«

Beaumont fuhr bei Graysons Ausruf herum. Er schreckte zusammen. Eine Welle aus der anderen Richtung war fast schon an der Scholle. Dahinter glitt die andere Seite der Klaue auf sie zu und schob die Welle vor sich her. Er rief nach Grayson, und der Amerikaner rannte ihm entgegen, während Beaumont schnell zurückblickte, um die Situation im Osten abzuschätzen. Es würde zu einer Katastrophe kommen – soviel war ihm augenblicklich klar. Die westliche Eisplatte würde sie packen, kurz bevor die aus dem Osten sie erreichte – und sie mußten die östliche Richtung nehmen. »Geh zu den Hunden, Horst!« Er hörte ein Geräusch hinter sich und schaute zurück. Die Welle brach gegen die Scholle und überflutete sie mit schwarzem Wasser. Es erreichte Grayson und umspülte seine Stiefel. Die Hunde, die ebenfalls im Wasser standen, wurden wild. Die Männer liefen zu den Tieren hinüber und ergriffen die Zügel.

»Könnte sein, daß es uns schiebt, das Eis hinter uns…«, rief Beaumont. Während Horst sich mit seinem Gespann abmühte, kämpfte Beaumont um die Kontrolle über sein eigenes, wobei er mit einer Hand die Peitsche hielt, mit der anderen die Lenkstange. Rundherum waren sie von Wasser umspült. Sekundenlang tauchte die Scholle unter; es sah aus, als ständen sie auf der See. Die Hunde waren zu Tode erschrocken. Sie spürten, daß sie jeden Augenblick ertrinken konnten. Sie alle konnten in den nächsten Sekunden ertrinken. Es hing nur von der Widerstandskraft und Stärke des unsichtbaren Eises ab, auf dem sie standen. Wenn der wuchtige Schlag der Eisplatte, die hinter ihnen auf sie zutrieb, eine schwache Stelle traf und die Scholle auseinanderbrach, würden sie ohne festen Boden unter den Füßen auf der See treiben und sich im eisigen Wasser abstrampeln, bis die Klaue zuschlug und sie völlig zerrieb.

Die östliche Eisplatte war noch etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Ihre Druckwelle hatte sie noch nicht erreicht, als der Aufprall mit einem atemberaubenden Schlag erfolgte, der das Eis unter ihnen erbeben ließ. Die Hunde hörten auf zu rasen und standen wie vom Donner gerührt völlig regungslos da. Die See war von ihrem Floß abgeflossen und hinterließ Pfützen in den Vertiefungen. Aber es war noch unversehrt. Jetzt fühlten sie, wie das Floß vorwärts geschoben wurde, der Kollision mit der herangleitenden Platte entgegen. Beaumont schaute zurück und sah die Eisplatte hinter ihnen, die etwa dreißig Zentimeter höher war als die Scholle. »Auf die andere Seite, schnell«, rief er.

Mit den Peitschen trieben sie die demoralisierten Hunde über die kurze Strecke bis an den Schollenrand. Unmöglich! Sie hatten nicht die geringste Chance. Beaumont wünschte in diesem Augenblick, er hätte kehrtgemacht und die Gespanne auf die andere Seite der Zange geschafft, in der sie sich jetzt befanden. Aber es war zu spät. Die Welle von der Ostseite klatschte auf das Floß und umspülte ihre Füße. Wieder versuchten die Hunde auszubrechen. Beaumont zog die Zügel fest an und hielt die Peitsche bereit für einen scharfen Knall. Sie standen immer noch mit den Füßen im Wasser, als der Spalt sich schloß. Die Schlitten standen nebeneinander. Dann knallten die Peitschen, die Männer schrien, die Hunde schossen vorwärts, Sekunden vor dem Moment des Zusammenpralls. Unter ihnen überflutete die See kniehoch das Floß, tauchte es völlig unter.

Die Hunde rannten um ihr Leben und zogen die Schlitten mit sich über den Spalt, bevor das Eis donnernd aufeinandertraf. Etwas bäumte sich unter Beaumonts rechtem Bein auf, aber die Zugkraft der Schlitten riß ihn vorwärts, das Donnern des Eises in den Ohren. Der Rand des Eisfeldes war glatt, und die Schlitten jagten davon. Durch die Reibung brach das Eis von den Kufen ab, das angefroren war, als sie im Wasser standen. Das Donnern machte sie derart taub, daß sie das gewaltige Krachen kaum hörten, mit dem die Kanten der beiden Eisplatten zerbarsten und sich zu einem sieben Meter hohen Wall aus aufgerichtetem Eis aufwarfen, von dessen Kamm große Blöcke taumelten. Grayson, der neben Beaumont trabte, rutschte aus und stürzte. Hinter ihm wälzte sich der Eisrücken vorwärts wie eine Lavamasse, die Blöcke vor sich herstoßend.

Beaumont sah ihn fallen, faßte Peitsche und Schlitten mit einer Hand und griff nach ihm. Grayson kniete, als Beaumont seinen Ann packte, ihn mit einem Ruck mitriß. Der Amerikaner umklammerte die Lenkstange mit einer Hand. Er wurde meterweit auf den Knien mitgeschleift, bevor er wieder auf den Füßen stand. Hinter ihnen, dort, wo Grayson gefallen war, schlug ein riesiger tonnenschwerer Eisblock dumpf auf. Grayson, noch mitgenommen, die Hand an der Lenkstange, stolperte vorwärts mit dem Schlitten, der knapp hinter Langers Gespann herfuhr. Im Hintergrund tobte das Packeis in chaotischer Bewegung – eine gigantische Kollision.

Spalten rissen an den schwachen Stellen auf. Ein dunkler Einschnitt lief an Beaumonts Schlitten vorbei und voraus. Er schwenkte aus, um ihm auszuweichen, und schwenkte wiederum, um einer zweiten Öffnung zu entkommen. Das Grollen und Donnern des aufbrechenden Eisfeldes wurde zu einem ohrenbetäubenden Lärm, wie ein Bombardement. Sie rannten weiter, trieben die Hunde, rannten um ihr Leben, fort von der zerbröckelnden Hölle hinter ihnen, und als sie knapp einen Kilometer hinter sich hatten und kurz vor der Nebelwand waren, ließ Beaumont halten. Sie rangen nach Luft, ebenso die Hunde. Die Kleidungsstücke unter ihren Parkas waren feucht von Schweiß. Sie schauten zurück. In der Ferne bäumte und krümmte sich das Eisfeld immer noch. Es könnte Stunden dauern, bis der Aufruhr sich legte, bis sich das Eisfeld wieder zusammengefügt hatte und sich das hörbare arktische Schweigen ausbreitete.

 

 

»Wer zum Teufel war das?«

Das flackernde Bild von drei pelzbekleideten Gestalten aus der Luft gesehen erschien im Rauch. Es verschwand, und man sah Nebel und mehr Rauch. Die Leinwand in der Hauptquartiersbaracke wurde weiß. Papanin regte sich in seinem Stuhl neben Kramer, als der Vorführer die Filmspule abnahm und jemand das Licht einschaltete. Der Rauch kam von der kleinen geschwungenen Pfeife, die er pausenlos paffte. Der Rauch in der überhitzten Baracke verschleierte das Schild »Rauchen verboten« an der Wand. Die Luft war glühend heiß.

»Wie interessant«, wagte Kramer vorzubringen.

»Der Film sagt mir absolut nichts«, antwortete der Sibirier. »Nur drei Männer und zwei Hundegespanne am Rande des Nebels. Wo ist die Beaumont-Truppe? Wir suchen nach einer großen Gruppe von Männern – nach einer Expedition. Diese dämlichen Piloten haben ihre Augen nicht an den richtigen Stellen.«

Papanin drehte sich in seinem Stuhl, die kleine Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, und sah auf eine Karte der südlichen Arktis, die auf einem Tisch ausgebreitet war. Die neuesten Positionen aller Schiffe in diesem Gebiet waren markiert: die sechs Schiffe der Trawler-Flotte K 49, der Träger Gorki, das riesige Forschungsschiff Revolution und der amerikanische Eisbrecher Elroy, der sich stetig dem Eisfeld näherte.

Neben der Karte lag eine vergrößerte Luftaufnahme von Target 5. Das Foto war vor vier Wochen aufgenommen worden; eine Routinesache, um ihre Akten über alle amerikanischen Stützpunkte in der Arktis auf dem laufenden zu halten. »Die Rampe auf Target 5«, sagte Papanin, »die Stelle, wo sie ihre Schneepanzer auf das Packeis fahren. Das Sabotagekommando müßte jetzt dort sein.«

Kramers Uhr zeigte zweiundzwanzig Uhr dreißig. In diesem Moment schloß sich vierzig Kilometer westlich die Wasserrinne um Beaumont. Aber er wußte nichts davon. »Unsere Leute sind vor einer Stunde dort angekommen«, erwiderte der Balte. »Mit Hilfe ihres Radargeräts werden sie den amerikanischen Stützpunkt sogar im Nebel gefunden haben.«

»Und die Piste – sie muß auch unbrauchbar gemacht werden.«

»Dasselbe Kommando wird beides erledigen – Rampe und Piste. Sie werden alles genauso machen, wie Sie es vorgeschlagen haben…«

»Kein internationaler Zwischenfall, Sie wissen ja«, ermahnte ihn Papanin.

»Wenn irgend etwas passiert, wird es aussehen wie ein Unfall – oder wie eine Serie von Unfällen. Innerhalb von dreißig Minuten wird Target 5 von der Außenwelt abgeschlossen sein…«

»Nicht, wenn ihr Funkstand noch funktionsfähig ist…«

»Wird es nicht sein. Dasselbe Sabotagekommando wird auch das erledigen.«

Aber Papanin, die Arme hinter der Lehne verschränkt, lümmelte sich in seinem Stuhl und hörte kaum zu. »Beaumont«, murmelte er. »Beaumont«, wiederholte er. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Kramer, besorgen Sie mir ein Nachrichtenformular. Ich muß eine dringende Nachricht an Petrow im Leningrader Archiv schicken.«

 

 

»Ich glaube, du irrst dich ganz gefährlich.«

»Wir müssen direkt Ost«, sagte Beaumont zum drittenmal zu Grayson, »und früher oder später treffen wir auf Target 5.« Er zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte nicht wegen des Nebels, der in alles eingedrungen war – auch in ihre Lungen. Der Streit war schon seit zehn Minuten im Gange – welcher war der richtige Weg?

»Wir sind auf der Scholle ziemlich weit südlich getrieben«, beharrte Grayson. »Da ich der Navigator bin, sollte ich ein Wort mitreden dürfen…«

»Du hast deine Meinung gesagt, und ich bin halt anderer Meinung. Alles treibt südlich – und zwar viel zu schnell für meinen Geschmack. Das Eisfeld, Target 5, der russische Stützpunkt, die Scholle, von der wir fast nicht lebend runtergekommen wären – alles treibt mit derselben Geschwindigkeit südlich. Deshalb darfst du das Treiben auf der Scholle nicht getrennt von den anderen beurteilen.«

»Bis zu einem gewissen Punkt hast du recht…«

»Ich habe todsicher recht. Und wir sind nicht im Unterhaus, wo sie reden, um sich Taten zu ersparen. Also ziehen wir los.«

»Direkt Ost?«

»Wohin sonst!«

Sie setzten sich in Bewegung; es ging durch beklemmenden Nebel und über holpriges Eis. Wieder mußten sie die Lenkstangen der Schlitten fest im Griff haben und ständig aufpassen, daß sie nicht umkippten. Sehr bald nach ihrem Aufbruch kamen sie an einen massiven Eisrücken, den sie nicht umgehen konnten. Mit Eisäxten mußten sie einen Durchlaß in den Wall schlagen. Es war eine mörderische Arbeit, die sie Zeit und zuviel Energie kostete. Der einzige Lichtblick war, daß sie seit längerer Zeit keinen einzigen Hubschrauber mehr gehört hatten.

»Es sieht aus, als hätten die Russen aufgegeben«, bemerkte Langer hoffnungsvoll, als sie die Lücke durch den Eiswall passierten. »Oder der Treibstoff ist ihnen ausgegangen.«

»Vielleicht«, antwortete Beaumont unverbindlich. Er überlegte, ob sie ihr Nachtlager aufschlagen sollten. Es war dreiundzwanzig Uhr dreißig, und alle bewegten sich lethargisch, sogar die Hunde. Die Anspannung der letzten Stunden und die bittere Kälte zermürbten sie – die Kälte besonders. Er warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm ging. Eine Zeitlang waren sie mit Schneebrillen vor den Augen gelaufen, aber bald hatte der Nebel sie verschmiert, so daß sie nicht mehr sehen konnten, wohin sie gingen. Deshalb hatten sie sie jetzt auf ihre Kapuzen zurückgeschoben. Graysons Brille hatte Gläser aus solidem Eis. Sein Atem war auf den Brillengläsern gefroren.

»Wir werden halten, sobald wir einen geeigneten Platz für unser Lager gefunden haben«, bemerkte Beaumont.

»Gott sei Dank!« Der Amerikaner merkte, daß er den Vorschlag ein bißchen zu begeistert aufgenommen hatte. »Ich könnte noch mal versuchen, Target 5 anzupeilen«, schlug er vor. Zu ihrer Ausrüstung, die auf den Schlitten verstaut war, gehörte ein Redifon GR 345, Sender-Empfänger und Peilgerät, ein tragbares Hochfrequenzgerät mit einer Höchstleistung von nur fünfzehn Watt. Aber mit diesem Apparat konnten sie Thule erreichen und selbstverständlich Curtis Field. Seitdem die Sikorskys sie auf dem Eis abgesetzt hatten, hatten sie dreimal angehalten und das Gerät eingeschaltet in der Hoffnung, irgendeinen Funkspruch von Target 5 zu hören. Aber sie hatten nichts gehört. Auf der Insel schien Funkstille zu herrschen.

Ein einziges Signal von dort hätte ihnen die Möglichkeit gegeben, mit dem Peilgerät den Funkstand von Target 5 zu orten und ihre eigene Position in etwa festzustellen. Beaumont war beunruhigt, daß jegliches Signal ausblieb. Das aber behielt er für sich. »Wahrscheinlich eine Menge atmosphärischer Störungen – sie wissen, daß sie nicht durchkommen, und deshalb versuchen sie es gar nicht erst«, sagte er unbekümmert zu Langer, der sich nach dem Grund für die Funkstille erkundigte.

Vor ihnen begann sich der Nebel in Bodennähe zu lichten. Darüber war er jedoch dicht wie zuvor. Sie gelangten in ein Gebiet, wo das Eis glatter war, der beste Untergrund für ein Lager, den sie auf ihrem Weg bisher gesehen hatten, und Beaumont entschied, daß sie am besten hier blieben. Die Hunde glitten nur häufiger auf dem Eis aus, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß ihre Kräfte nachließen. Kurz vorher hatte Langer schon seine Bedenken herübergerufen.

»Bismarck wird langsamer. Die ganze Meute wird bald streiken, wenn wir versuchen, noch weiter zu kommen.«

»Ich glaube nicht, daß wir zu dieser Stunde noch ein Hotel finden«, rief Beaumont zurück. »Dann pennen wir also hier…« Er brach plötzlich ab, die Hand noch an der Lenkstange, und starrte geradeaus. In dem dünner werdenden Nebel flackerte irgend etwas rötlich, verschwand und flackerte stärker wieder auf. Er wollte es nicht glauben. Er blinzelte, überzeugt, daß er Gespenster sähe. Er schaute wieder hin. Nebel rollte her an und verschleierte die Sicht mit einem durchsichtigen Vorhang. Wieder flackerte etwas rot auf, durchdrang den Nebelschleier, stieg höher, quoll auseinander und türmte sich auf. Er nahm einen schwachen Geruch wahr, den Gestank von Rauch. Auch die Hunde witterten ihn. Sie wurden unruhig. Sie spürten das Feuer.

»Was zum Teufel ist das?« fragte Grayson heiser.

Beaumont gab keine Antwort. Er nahm den Kompaß des Amerikaners, beugte sich über ihn und konzentrierte sich auf die Leuchtskala, um die Position zu bestimmen. Als er aufblickte, war das Flackern zu einem matten, gefährlichen Glühen geworden. Ein solches Glühen über dem Eis hatte er schon einmal aus einer Entfernung von sieben Kilometern gesehen, als ein amerikanischer Forschungsstützpunkt vor Alaska brannte.

»Was ist das?« wiederholte Grayson. »Das sieht ja ungeheuer aus.«

»Schlagt euch das Hotel aus dem Kopf«, sagte Beaumont ernst. »Es geht weiter – so schnell die Hunde können. Es ist Target 5, was da in Flammen aufgeht.«

 

 

Dienstag, 22. Februar: null Uhr fünfzehn bis acht Uhr

 

»Irgendein Verrückter hat diese Wahnsinnstat absichtlich begangen – das ist die reinste Sabotage…«

Matthew Conway, der fünfzig Jahre alte Stationsleiter, schnaubte vor Wut. Sein Zorn loderte fast so wie die Flammen, die die Funkbaracke zu einem Leuchtfeuer in der Nacht hatten werden lassen. In dem Nebeltreiben untersuchte Beaumont die Trümmer, während Dr. Conway eine starke Lampe auf etwas richtete, das vor kurzem noch eine große Baracke gewesen war. Wo früher Wände gestanden hatten, waren nur noch verkohlte Stümpfe zu sehen. Ein großes Stück verbogenen Metalls lag halb vergraben unter einem Haufen Asche, und ein scharfer Brandgeruch lag in der windstillen Nacht. Die Baracke war bis auf das Fundament abgebrannt. Rauchschwaden wirbelten umher und mischten sich mit dem Nebel.

»Wieso Sabotage?« fragte Beaumont, während er das Gewehr an seiner Schulter zurechtrückte.

»Die Baracke brannte zwar schon, als ich gerufen wurde, aber doch nicht so«, sagte Conway wütend. »Rickard, der Funker, den Sie getroffen haben, als Sie hier ankamen, hat das Feuer zuerst gesehen. Als ich hinzukam, war die Hölle los – aber die Tür stand noch. Ich habe frische Holzsplitter um das Schloß bemerkt. Es sah aus, als wäre sie gewaltsam geöffnet worden.«

»Hätte auch vom Feuer stammen können«, sagte Beaumont beiläufig. Er bemühte sich, alle zu beruhigen. Seit sie vor zehn Minuten angekommen waren, hatte er die gespannte Atmosphäre unter den drei Männern gespürt, die auf ihre Evakuierung von dem zum Untergang bestimmten Stützpunkt warteten. Diese Spannung hatte hier bereits geherrscht, bevor die Baracke in Flammen aufging.

»Sah aber gar nicht so aus«, widersprach Conway. »Der Raumstrahler zum Beispiel – dieses verbogene Stück Metall. Ich konnte durch die offene Tür hindurch sehen, daß er umgekippt war. Er stand aufrecht, als Rickard die Baracke vorhin verließ…«

»Vielleicht hat das Feuer ihn umgeschmissen…«

»Herrgott noch mal! Glauben Sie, ich wäre nicht mehr bei Sinnen? Ich bin vielleicht seit drei Jahren auf dieser Insel, aber ich bin trotzdem noch bei Verstand! Die Raumstrahler sind schwere Dinger – man müßte ihnen schon einen kräftigen Tritt versetzen, um sie auf die Seite zu werfen.«

»Schon gut, Matt, regen Sie sich ab.« Beaumont ging um die glimmenden Trümmer herum. Seit drei Jahren kannte er Conway flüchtig, und zweimal hatte er Target 5 besucht, als sie Hunderte von Kilometern weiter nördlich von ihrer gegenwärtigen gefährlichen Position trieb. Aber im Nebel hatte alles anders ausgesehen. Als sie das Feuer bemerkt hatten, waren sie über das Eis gejagt und hatten sich auf die Insel hinaufgearbeitet, ohne vorher nach der Rampe für die Schneepanzer zu suchen. Sie hatten die Schlitten über eine Rinne in den Klippen geschleppt, die etwa sieben Meter über das Packeis ragten, und waren auf das orangefarbene Glühen im Nebel zugelaufen.

»Dieser Metallklumpen – dort in der Ecke gerade noch zu sehen – ist unser Sender«, rief Conway. »War unser Sender«, verbesserte er sich. »Jetzt gibt es keine Möglichkeit, zum Festland durchzukommen – wir sind abgeschnitten, bis unser Flugzeug kommt.«

»Was erst in zehn Tagen sein wird«, sagte Beaumont, der jetzt neben dem Amerikaner stand. »Warum hat man es so lange aufgeschoben?«

»Das war meine verrückte Idee.« Conways Stimme klang verärgert. »Wir hatten nie die Möglichkeit, so weit südlich Tiefenmessungen und Salzgehaltbestimmungen durchzuführen. Dies schien dafür eine äußerst günstige Gelegenheit zu sein. Aber ich hatte nicht mit Nebel gerechnet. Und jetzt das hier…«

»Wer sollte es auf die Baracke abgesehen haben?« fragte Beaumont.

»Nur wir drei sind hier – also niemand. Ich weiß es nicht, wahrscheinlich macht sich der Streß auch bei mir bemerkbar.« Er wechselte das Thema. »Was ist mit diesem Russen, der hierherkommen soll?«

»Ein Mann namens Gorow, Michael Gorow.« Beaumonts Stimme klang beiläufig und vage: Conway hatte nicht die Sicherheitsstufe Nummer eins für seine Aufgabe erhalten. »Ich weiß nicht viel von ihm, aber vermutlich glaubt Washington, daß er eine Menge über die politische Lage in Rußland erzählen könnte. Er soll sich auf dem Weg von Nordpol 17 hierher befinden.«

»Und deswegen seid ihr hier?«

»Wir sollen ihn abholen und nach Curtis Field zurückbringen. So einfach ist das.«

»Einfach – über das Packeis zurück?« Conway starrte den Engländer an. »Die Reise würde ich nicht für sechzigtausend Dollar machen.« Conway grinste, während er die Eiskügelchen von seinen Augenbrauen zupfte. »Dabei könnte ich mit sechzigtausend Dollar eine Menge anfangen. Sollen wir zu den anderen zurückgehen?«

»Können wir uns vorher irgendwo ungestört unterhalten – auf dem Weg?«

»Das Laboratorium liegt gleich gegenüber.« Conway ging den Weg über den festgetretenen Schneepfad zwischen den unversehrten Baracken voraus. Beaumont war ziemlich sicher, daß sich der Nebel wieder verdichten würde. Er war auch ziemlich sicher, daß Conway vollkommen recht hatte. Die Funkbaracke war das Opfer einer Sabotage. Aber es hatte keinen Sinn, die Spannung auf der Insel zu vergrößern, und er hatte einen noch ernsteren Grund, den Mund zu halten. Falls Gorow durchkam und sie ihn rausbrachten, würden sie die drei Männer auf Target 5 zurücklassen müssen. Zu Conway hatte er Vertrauen, aber Rickard kannte er nicht, und Sondeborg brauchte er nicht näher kennenzulernen. Ein Blick auf den Spezialisten für Schwerkraft, und er wußte, daß Sondeborg kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Falls die Russen auftauchten, nachdem sie mit Gorow verschwunden waren, und versuchten, Druck auszuüben, konnten die zurückgebliebenen Männer ihnen nichts sagen – wenn sie nichts wußten.

»Hier drinnen können Sie auftauen«, sagte Conway und schloß eine Baracke am Ende der Reihe auf. »Wir haben die Heizung hier angelassen.«

Die Baracke war etwa so groß wie die Hauptquartierbaracke, in die Beaumont nach seiner Ankunft gegangen war. Es war ein großer Raum von ungefähr fünf mal sieben Metern. Kisten, die für die Evakuierung vorbereitet waren, standen an den Wänden. An einem Ende des Raums stand ein riesiges Eisenstativ, das einen großen Kurbelmechanismus hielt. Conway zeigte auf das Stativ. »Da hängen wir die Unterwasserkamera dran, mit der wir den Meeresboden fotografieren. Den Bohrkern haben wir durch das selbe Loch hinuntergelassen. Möchten Sie es sich ansehen?«

Conway bückte sich. Mit einem Hebel hob er einen Teil der Fußbodenbretter unter dem Stativ ab. Beaumont sah durch ein rechteckiges Loch, etwa anderthalb Meter breit, nach unten. Zwei Meter darunter lagen weitere Bretter. »Da könnten wir Gorow zur Not verstecken«, schlug Conway vor. »Er würde ganz schön frieren, aber eine bessere Lösung habe ich nicht zu bieten.«

Beaumont schaute über das Loch zu Conway hinüber. »Wovon reden Sie?«

»Hören Sie mal, Keith. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich noch bei Verstand bin. Und noch kann ich mir einiges zusammenreimen. Sie bringen zwei Männer vom Rand des Nebels über das Packeis – und ihr alle seid per Hubschrauber dorthin geflogen worden, haben Sie gesagt. Also muß dieser Gorow, der den russischen Stützpunkt verlassen hat, um hierherzukommen, ziemlich wichtig sein. Und das bedeutet, daß die Leute vom russischen Staatssicherheitsdienst jetzt hinter ihm her sein werden. Stimmt’s?«

»Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Ja, aber Sie haben mir nicht gesagt, daß aus diesem Grund meine Funkbaracke sabotiert wurde. Sie wollten uns auf diese Weise von der Außenwelt abschneiden, damit wir Curtis Field nicht verständigen können, wenn euer Russe ankommt. Das habe ich mir jedenfalls zusammengereimt auf dem Weg von diesem Trümmerhaufen hierher. Stimmt’s?«

»Was ist unter den anderen Brettern?« fragte Beaumont. »Übrigens – es stimmt. Aber verraten Sie Rickard und Sondeborg nichts.«

»Ich bin verschwiegen wie ein Grab!« Conway bückte sich wieder und zog an einem Seil, das an einem Haken hing. Die unteren Bretter klappten auf wie eine Falltür an Scharnieren. Es war stockdunkel darunter. Conway knipste seine Lampe an und richtete den starken Lichtstrahl in das Loch. Aber selbst dieser Strahl ging in der endlosen Dunkelheit verloren. Ein scharfer Geruch von Salz reizte Beaumonts Nase. Zu beiden Seiten des Lichtstrahls glitzerten Eiswände.

»Dort unten ist die Arktis«, erläuterte Conway. »Siebzig Meter durch das Eis hindurch. Das ideale Versteck für eine Leiche.«

»Hoffentlich kommt es nicht dazu«, erwiderte Beaumont.

»Das sollte nur ein Witz sein. Es hilft, die Spannung ein bißchen zu lösen.« Conway ließ die Falltür über dem finsteren Loch zufallen. »Sie haben vielleicht gemerkt, daß ich ein bißchen nervös bin, sie werden das verstehen, wenn ich Ihnen verrate, daß sich Michael Gorow in der nächsten Baracke befindet.«

Der geflohene Russe, der wichtigste Meeresforscher der Sowjetunion und Architekt des Katharina-Systems, lag bewußtlos auf dem Einzelbett, das an der Barackenwand stand. Er war bis zum Kinn in Decken eingehüllt. Nur sein gräßlich vernarbtes Gesicht mit den dicken, halbgeöffneten Lippen und die dichten, glatten dunklen Haare über der Stirn waren zu sehen. Gorow atmete schwer. Wie Leonid Breschnew hatte er buschige Augenbrauen, aber seine Wangen waren eingefallen und blaß.

»Er ist eine halbe Stunde vor euch eingetroffen«, erklärte Conway. »Ich war allein bei der brennenden Funkbaracke, als er schwankend aus dem Nebel auftauchte. Ich habe ihn vorerst hier hereingebracht, da die Baracke am nächsten lag.«

Ironie des Schicksals, dachte Beaumont. Irgend jemand hatte einen groben Fehler gemacht, als er die Baracke in Brand gesteckt hatte: Denn gerade das lodernde Leuchtfeuer hatte ihm erst den Weg zu der Eisinsel gezeigt. Und Gorow hatte zweifellos denselben flammenden Orientierungspunkt gebraucht, um sich nach Target 5 durchzufinden. Der Russe bewegte sich unruhig im Schlaf, murmelte etwas. Es klang wie der Ruf nach einem Mädchen – Rachel –, dann war er wieder ruhig.

»Steht es sehr schlecht um ihn?« fragte Beaumont. »Sie waren früher Arzt, also müssen Sie es wissen.«

»Die Erfrierungen sind nicht so schlimm, wie es aussieht. Er hat einige alte Narben und frische Wunden, die ich behandelt habe. Er redet unaufhörlich und war leicht hysterisch. Deswegen habe ich ihm ein mildes Beruhigungsmittel gegeben, damit er schlafen konnte. Er redete, als ob ich wissen müßte, daß er kommen würde, und ich habe ihn in dem Glauben gelassen. Ich dachte, es wäre nur hysterisches Gerede.«

»Wie ist er hierhergekommen?«

»Anscheinend ist er mit einem Schlitten über das Packeis gekommen…«

»Wissen Sie das denn nicht genau, Matt?« fragte Beaumont ungehalten.

»Sie brauchen nicht gleich in die Luft zu gehen…«

»Es ist wichtig! Wenn sein Schlitten dort draußen herumliegt und die Russen ihn finden, werden sie wissen, daß er hier ist.«

»Tut mir leid, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Er hat mir gesagt, daß er seine Hunde irgendwo hier in der Nähe verloren hätte, während er ein Nickerchen machte. Er hätte sie nicht richtig angebunden. Den Schlitten mußte er den Rest des Weges selbst ziehen, und das hat ihn fast das Leben gekostet. Dann hat er aus der Ferne die brennende Baracke gesehen. Er hat mit dem Kompaß flüchtig seine Position bestimmt, den Schlitten aufgegeben und sich bis hierher zu Fuß geschleppt.« Conway nahm die angebotene Zigarette. Der Russe regte sich wieder, als das Streichholz angezündet wurde. »Ich schätze, daß er den Schlitten etwa einen Kilometer hinter den Klippen gelassen hat. Ist das schlimm?«

»Nicht gerade günstig. Woher wissen Sie, daß er Michael Gorow ist?«

»Das hat er gesagt…«

»Ist das seine Jacke?« Beaumont nahm die Jacke vom Tisch und fing an, die Taschen zu durchsuchen. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß Sie in dieser Baracke eine Liege hatten, als ich das letzte Mal auf der Insel war.«

»Hatte ich auch nicht.« Conway lächelte ernst. »Der offizielle Grund ist, daß ich hier eine Menge Berechnungen vornehme. Wenn ich fertig bin, kann ich einfach ins Bett fallen. Der eigentliche Grund ist, daß ich für ein paar Stunden von den anderen wegkomme.«

»Insbesondere von Sondeborg?« Beaumont untersuchte mit äußerster Sorgfalt den Inhalt der Brieftasche und legte jedes Stück einzeln auf den Tisch.

»Insbesondere von Sondeborg – er schnappt bald über. Und seine Stimmung wird sich demnächst auf Rickard übertragen. Panik ist die ansteckendste menschliche Krankheit. Ist das nötig, seine persönlichen Sachen durchzusehen?« Conway war etwas gereizt.

»Jawohl! Dieser Ausweis besagt, daß er Michael Gorow ist«, antwortete Beaumont, war aber immer noch skeptisch. »Der Haken ist nur, daß wir kein Bild von ihm haben. Hat er gesagt, daß die Sicherheitsleute hinter ihm her wären?«

»Nein, er hat ganz plötzlich aufgehört zu reden, kurz bevor ich ihn ins Bett schickte. Ich glaube, er wurde argwöhnisch, weil ich nichts von ihm wußte. Es gab noch einen Grund, weshalb ich ihn in diese Baracke gebracht habe, das heißt, ihn hier auch gelassen habe.« Beaumont sah ihn wortlos an und nahm den feuchten Parka des Russen auf. Die Hitze des Raumstrahlers hatte den Schnee auf dem Pelz schmelzen lassen. »Die anderen wissen nicht, daß er hier ist«, fuhr Conway fort. »Er hat genug gesagt, um mir klarzumachen, daß er auf der Flucht ist; und ich habe mir gedacht, daß der russische Sicherheitsdienst ihm auf den Fersen sein könnte. Ich möchte nicht noch mehr Panik heraufbeschwören. Ich habe schon genügend andere Dinge, mit denen ich jetzt fertig werden muß.« Conway unterbrach sich. »Und da ich ihn schon verstecken mußte, konnte ich mich nicht darauf verlassen, daß Sondeborg den Mund hält.«

Beaumont betrachtete den Amerikaner mit neuem Respekt. »Das war sehr schlau von Ihnen, Matt, sehr schlau. Und es könnte uns sehr helfen, falls die Russen wirklich auftauchen. Wir werden Gorow vielleicht doch noch in Ihrem scheußlichen kleinen Loch verstecken müssen…«

»Ich habe nicht einen lebendigen Menschen gemeint«, protestierte Conway. »Ich habe Ihnen gesagt, das sollte nur ein Witz sein. Mein Gott, wenn Sie ihn dort unten hineinstecken, wird er erfrieren.«

»Nicht, wenn wir ihn gut einpacken, ihn einhüllen und ihm einen kleinen Heizapparat mit hineinstellen. Es wäre nur für kurze Zeit – während die Russen die Station durchsuchen.«

»Die Station durchsuchen!« Conway war empört. »Sie dürfen hier keine Durchsuchung vornehmen – über diesem Ort weht die amerikanische Flagge…«

Beaumont kramte aus einer der tiefen Taschen des Parkas eine Röhre hervor, die etwa dreißig Zentimeter lang und sehr schwer war. »Matt, Sie haben es noch immer nicht ganz begriffen – und das sollten Sie den beiden anderen auch nicht sagen. Wir sind auf dieser Station von der Außenwelt völlig abgeschnitten, isoliert. Wegen des Nebels kann kein Flugzeug landen, der Funkkontakt ist ausgeschaltet. Wenn zu diesem Zeitpunkt auf dieser Insel jeder einzelne sich in Luft auflösen würde, gäbe es keinen einzigen Beweis dafür, daß hier etwas passiert ist.«

Conway ließ sich langsam auf einen harten Holzstuhl fallen und blickte zu Beaumont auf. »Wer wird hier von Panik gepackt?« fragte er mit gezwungenem Lächeln. »Das glauben Sie doch nicht im Ernst – das würden Sie doch nicht wagen…«

»Machen Sie sich eines endgültig klar«, sagte Beaumont kalt. »Das hätte mit Wagemut nicht viel zu tun, höchstens mit ein bißchen Skrupellosigkeit. Nehmen wir an, einer Ihrer Schneepanzer wird nur einige Kilometer von hier entfernt auf dem Packeis verlassen aufgefunden – ohne Treibstoff. Wenn der Nebel sich auflöst und jemand von Curtis Field hierherfliegt, findet er die Station leer, die Funkbaracke niedergebrannt, den Schneepanzer draußen auf dem Eis. Zu welcher Schlußfolgerung müßte er dann kommen? Daß ihr alle den Kopf verloren hättet, als der Nebel sich um die Insel legte. Daß ihr eure einzige Möglichkeit, euch mit dem Festland zu verständigen, verloren hättet, daß ihr versucht hättet, auf eigene Faust herauszukommen. Euch geht der Treibstoff aus, und ihr versucht, zur Insel zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin passiert euch etwas. Eine Rinne reißt auf, ein Eisrücken bildet sich und erdrückt euch…«

»Das ist entsetzlich«, empörte sich Conway. »Was Sie da reden, ist ein Plan zum Massenmord…«

»Ich möchte nur, daß Sie wissen, woran wir sind, Matt«, hielt Beaumont ihm ruhig entgegen. »Ich spreche von dem russischen Staatssicherheitsdienst für besondere Aufgaben.«

»Wann ziehen wir los?«

Die Frage stellte Langer, als er die Hunde in der Baracke gegenüber dem Hauptquartierbau unterbrachte. Die Vorbereitungen zur Evakuierung der Station waren weit vorangekommen. Die Hälfte der Baracken auf der Eisinsel stand jetzt leer. An den Wänden der Hütte, die sie für die Hunde ausgesucht hatten, waren Kisten hochgestapelt. Vollgepackt mit Geräten waren sie für das Flugzeug bestimmt, das in zehn Tagen kommen sollte.

»Sobald Gorow wieder reisefähig ist – vielleicht sogar früher, falls es notwendig wird –, was durchaus der Fall sein kann«, erwiderte Beaumont.

Langer rückte den Raumstrahler zurecht, den er in die Baracke getragen hatte, und blickte spöttisch auf. »Erwarten wir Besuch? Unliebsame Gäste?«

»Sie waren schon einmal hier – als sie die Funkbaracke ansteckten. Ich nehme an, daß sie noch ganz in der Nähe sind. Horst, wenn du hier alles fertig hast, möchte ich, daß du den Sender auspackst und klar und deutlich eine Nachricht nach Curtis Field funkst. Die Nachricht lautet: ›Target 5 Funkbaracke außer Betrieb. Sabotierte Wiederhol das Wort sabotiert mehrmals, sag das Ende deiner Durchsage an, und pack das Gerät wieder ein.«

Langer gab dem schlafenden Bismarck einen Klaps, der müde ein Auge öffnete und es gleich wieder schloß. »Meinst du, ich sollte nicht auf die Empfangsbestätigung der Mitteilung warten?«

»Die Mitteilung ist nicht für Curtis Field gedacht – sie ist für die Russen, die auf Nordpol 17 den Funkverkehr abhören.«

»Bist du zufällig in der Laune, mir dieses große Geheimnis zu erklären?« fragte Langer belustigt. »Nur damit ich weiß, was ich tue und was hier gespielt wird?«

»Später. Und wenn du damit fertig bist, möchte ich, daß du abwechselnd mit Sam Gorows Baracke bewachst. Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt und keine Zeit zu verlieren ist, gib mit deinem Gewehr einen Schuß in die Luft ab. Wenn du gerade keine Wache schiebst, versuch ein bißchen zu schlafen.«

»Dir würde ein bißchen Schlaf auch nicht schaden«, stellte Langer fest. »Den Löwenanteil hatten wir zu leisten, als wir auf der Scholle trieben. Und ich verzichte gern auf den Schlaf, wenn wir dafür schneller von hier wegkommen. Auf dieser Insel kann man ja das Gruseln lernen – hast du gemerkt, daß die drei Kerle, die auf ihre Evakuierung warten, kurz vor dem Überschnappen sind?«

»Eben deswegen müssen wir behutsam vorgehen«, warnte Beaumont. Er ging aus der Baracke in die eisige Nacht hinaus. Sein Gesicht spannte sich, als er die Tür zumachte. Er konnte die Hauptquartierbaracke gerade noch erkennen, obwohl sie nur zwei Meter entfernt auf der anderen Seite des festgefahrenen Schneepfades lag, der zwischen den zwei Reihen von Gebäuden verlief. Der Nebel hatte sich wieder verdichtet und schien schon in dem Augenblick noch undurchsichtiger zu werden, als er stehenblieb und horchte. In der Nähe hörte er das leise Tuckern des Generators, der Target 5 mit Strom versorgte; und aus der Ferne hörte er etwas anderes – das dumpfe Knirschen und Schürfen des Packeises, das die Insel umgab.

Wenn Target 5 unter dem ungeheuren Druck auseinanderbrach, würde die Katastrophe ganz plötzlich eintreten. Aus dem Nichts würden sich Risse bilden, sich zu Spalten vergrößern, bodenlose Abgründe aufreißen, während die ganze Insel ihren dreißigjährigen Widerstand dem unaufhörlichen Druck des Packeises gegenüber aufgeben würde.

Aber nicht die Insel machte Beaumont in diesem Augenblick Sorgen – es war das, was sich in dem dichten rollenden Nebel auf ihr bewegen könnte, für ihn aber unsichtbar blieb. Er blickte in die Richtung des Hügels, den er nicht sehen konnte, jener seltsamen, dreizehn Meter hohen Erhebung mit ihren eingelagerten Felsblöcken, die über vierzig Kilometer von der nächsten Küste entfernt auf See trieb. Die Kälte biß in seinen Augen; Horst hatte recht, er war verdammt müde. Er überquerte den Pfad, öffnete die Tür der Hauptquartierbaracke und rief Grayson zu sich heraus. Er wartete draußen, während der Amerikaner seinen Parka überzog.

Bezeichnenderweise stellte er keine einzige Frage, als Beaumont ihn über Gorow aufklärte. Während er das Gewehr umhängte, bevor er den Weg hinaufging, äußerte er nur: »Es gibt Ärger da drinnen. Ich würde diesen Sondeborg am liebsten in die nächstbeste Rinne befördern.«

Beaumont gab sich einen Ruck, bevor er hineinging und die Tür hinter sich schloß. Er hatte laute Stimmen von draußen gehört. Jetzt aber schrie Sondeborg geradezu. Er stritt mit Conway. »Wir können mit dem kaputten Sender gar nicht zum Festland durchkommen«, tobte Sondeborg. »Was passiert, wenn die Insel anfängt, auseinanderzubrechen, bevor unser Flugzeug ankommt? Wir sitzen in der Falle…«

Der Schwerkraftspezialist hörte auf zu schreien, als Beaumont die Türschloß. An der gegenüberliegenden Wand standen Etagenbetten. Jeff Rickard, der Funker, saß auf einem der unteren Betten, kaute an einem Streichholz und musterte Sondeborgs hageres Gesicht. Conway lehnte mit verschränkten Armen an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Die Ursache für die Röte in seinem sonst so blassen Gesicht war keineswegs die Hitze im Zimmer.

»Verdammt noch mal, Harv, schlaf dich mal richtig aus!« fuhr Rickard ihn an. »Wir haben Besuch, hör auf, deine Seele auszukotzen.« Der Funker, ein fröhlicher, zweiunddreißigjähriger Mann mit schwarzem lockigem Haar, faßte mit der Hand nach dem Arm des anderen. Sondeborg zog ihn schnell zurück und schleuderte Beaumont einen haßerfüllten Blick zu. »Warum sind Sie hier?« verlangte er zu wissen.

»Das habe ich Ihnen vorhin schon gesagt«, erklärte Beaumont geduldig. »Unser Hubschrauber stürzte ab auf das Eis, und wir hatten Glück, es bis hierher…«

»Ich glaube Ihnen kein einziges Wort!«

»Das tut mir leid.« Beaumonts Stimme klang gereizt. Er stellte sein Gewehr in einer Ecke ab, zog seinen Parka aus und legte ihn auf den Tisch. »Sie haben getrunken, nicht wahr?« Diese Schlußfolgerung bedurfte keines besonderen Scharfsinns. Er konnte die Fahne des Wissenschaftlers aus zwei Meter Entfernung deutlich riechen.

»Er hat irgendwo eine Flasche versteckt«, erklärte Conway Beaumont. »Ich habe sie bis jetzt nicht entdecken können. Dies ist sein letzter Aufenthalt in der Arktis.«

»Da können Sie sicher sein!« Sondeborg grinste höhnisch. »Von dem Augenblick an, da ich das Flugzeug besteige, will ich Eis nur noch in einer Bar sehen.«

»Wo Sie zweifellos in Zukunft Ihr Lager aufschlagen werden«, bemerkte Beaumont gehässig.

Sondeborg verlor plötzlich jede Selbstkontrolle. Er bückte sich, griff nach einem kurzen Eisstichel, der unter dem Tisch gelegen hatte, und richtete sich langsam wieder auf. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er Beaumont an.

»Leg das wieder hin!« befahl Conway kurz.

»Dieser lange Tommy nimmt zuviel Platz weg«, sagte Sondeborg langsam und bewegte seinen rechten Fuß vorwärts.

»Bleiben Sie, wo Sie sind, Rickard«, warnte Beaumont. »Es sieht nicht so aus, als erfreute ich mich in diesen Breitengraden großer Beliebtheit«, fuhr er fort, während er seinen Parka vom Tisch nahm. »Ich will keinen Ärger machen, Conway«, setzte er noch hinzu. »Ich werde in eine der anderen Baracken ziehen…« Er hielt den Parka, als wollte er ihn anziehen, wobei Sondeborg ihn unsicher beobachtete. Mit einer schnellen Wurfbewegung wie ein Matador, der sein rotes Tuch schwenkt, schleuderte er den Parka über Sondeborgs rechten Arm. Der fuchtelte mit dem Arm, um den Eisstichel freizubekommen, aber da traf ihn schon Beaumonts Schlag, und zwar ziemlich hart – mit einem kurzen, kräftigen Stoß, der Sondeborg gegen die Betten schleuderte. Er sackte zusammen, fiel halb in eine Schlafkoje und brach dann bewußtlos auf dem Boden zusammen.

»Sehen Sie schnell nach«, befahl Beaumont. »Wie lange braucht er, bis er wieder zu sich kommt?«

Conway beugte sich über den Mann, untersuchte ihn kurz und antwortete über die Schulter. »Er ist vollkommen außer Gefecht. Wenn man den Alkohol bedenkt, könnte er mehrere Stunden so schlummern…«

»Können wir ihn von hier wegbringen – in eine andere Baracke?«

»Die Baracke nebenan hat zwei Betten…«

»Ich möchte ihn dorthin umquartieren«, sagte Beaumont knapp. »Außerdem will ich, daß er gefesselt wird.«

»Gefesselt?« Conway klang überrascht und beunruhigt.

»Gefesselt.« Beaumont hob den Eisstichel vom Boden auf. »Ein Mann, der jemandem mit diesem Ding droht, muß eingesperrt werden. Sperrt ihn ein – und bringt ein Vorhängeschloß an der Tür an.« Conway öffnete den Mund, um etwas zu sagen, während Rickard Sondeborg auf seine Schulter hob. »Ich habe meine Gründe«, sagte Beaumont entschlossen, »also ein Vorhängeschloß.« Er ging zu dem hohen Schrank an der Wand. Mit einem Griff holte er etwas herunter. Conway starrte auf den Gegenstand, den Beaumont auf den Tisch stellte.

»Da hat er sie also versteckt.«

»Ich bin größer als Sie«, erklärte Beaumont, »und deswegen habe ich sie gesehen, als ich hereinkam. Es gibt noch zwei von der Sorte da oben.«

»Wo zum Teufel hat er sie her?« Conway nahm die Flasche in die Hand und betrachtete sie, als ob er seinen Augen nicht trauen könnte. Er hielt eine große Flasche russischen Wodka in der Hand. »Er kann sie kaum von Minsky bekommen haben, der ist harmlos. Er ist der Leiter von Nordpol 17. Aber er ist von Zeit zu Zeit hiergewesen, um zu sehen, wie es uns geht.«

»Um sich Informationen zu holen«, erwiderte Beaumont. »Die Russen führen eine detaillierte Akte über jeden amerikanischen Stützpunkt in der Arktis. Minsky hat seine Informationen von Sondeborg erhalten, als Tausch für den Alkohol, den Sie ihm vorenthalten haben. Geben Sie mir jetzt recht, daß wir ihn einschließen müssen?«

»Dieser Funkspruch macht mir Sorgen«, sagte Dawes. »Ich glaube, es zieht eine Krise herauf. Ich möchte eine Maschine nach Target 5 schicken.«

»Aber die Insel liegt noch völlig im Nebel«, wandte Adams ein. »Wie soll einer dort landen?«

»Sie haben uns gefunkt, daß die Funkbaracke abgebrannt ist. Das Wort Sabotage haben sie benutzt. Ich schicke die Transportmaschine. Wir haben sie startklar gemacht für den Fall, daß der Nebel sich lichtet. Ich schicke Ridgeway.«

»Wie soll er landen?«

»Weiß ich nicht«, gab Dawes zu. »Aber wenn irgendeiner landen kann, ist es Ridgeway. Er ist fünfmal auf Target 5 gelandet, an verschiedenen Stellen in der Arktis, und er ist der beste Zivilpilot im Umkreis von tausend Kilometern. Geben Sie den Befehl an Fuller weiter.«

»Das gefällt mir nicht«, brummte Adams, während er den Hörer nahm, um mit dem Kontrollbeamten vom Flugplatz zu sprechen. »Ridgeway wird nicht begeistert sein«, sagte Dawes.

 

 

»Ich habe deine Nachricht gesendet«, meldete Langer Beaumont, als er wieder zur Tür hereinkam. Er sah sich in der Baracke um. »Wo sind sie?«

»Sie bringen Sondeborg ins Bett – nachdem ich ihn eingeschläfert habe.« Er erzählte Langer, was passiert war. »Ich glaube nicht, daß die anderen es gemerkt haben, aber ich habe Sondeborg zu dieser Auseinandersetzung herausgefordert. Ich will klar Schiff haben.«

»Fürchtest du, daß die Russen kommen werden?« Langer ließ seinen Parka auf den Tisch fallen. »Mensch, ist das kalt draußen – ich löse Sam besser in ein paar Minuten ab.«

»Ich fürchte nicht, daß die Russen kommen könnten – ich bin sicher, daß sie kommen werden«, antwortete Beaumont bestimmt. »Die Frage ist nur, ob sie kommen, bevor oder nachdem wir von hier abgehauen sind. Wenn sie vorher kommen, möchte ich keinen Schwächling wie Sondeborg dabei haben, dem sie Fragen stellen könnten.« Er zeigte auf die Wodkaflasche. »Schon deshalb nicht, weil er ihnen bereits Informationen gegeben hat, nur um an sein Gesöff zu kommen. Er hat ihnen Informationen über die Funkbaracke geliefert.«

»Solche Informationen brauchten sie – wo der Mast aus dem Dach ragt?«

Beaumont neigte sich über den Tisch und goß Kaffee aus der Thermosflasche, die Conway für sie bereitgestellt hatte. »Trink etwas davon, zum Aufwärmen. Ja, sie brauchten zum Beispiel die Information, daß niemand dort schlief. In manchen arktischen Stützpunkten hat der Funker ein Feldbett in der Funkbaracke, damit er an der Strippe bleiben kann. Hier ist das nicht nötig – Rickard suchte die Baracke nur dann auf, wenn er das Funkgerät benutzte.« Beaumont stieß mit dem Finger an die zwei dreißig Zentimeter langen Metallröhrchen, die auf dem Tisch lagen. »Kommen sie dir bekannt vor?«

»Fünfundzwanzigtausend Jahre Geschichte steckt in jedem von ihnen.« Langer nahm eine Röhre in die Hand und untersuchte sie oberflächlich. »Phantastisch, wie sie diese Röhren an der Spitze des Bohrers hinablassen, in einer Tiefe von über dreitausend Meter in den Meeresboden hineinbohren und mit einem Bohrkern zurückholen. Und die eingegrabene Röhre bringt Proben vom Meeresboden zurück. Jahrtausende hindurch wurden die geologischen Schichten am Boden des Ozeans von dem gewaltigen Gewicht des Wassers zusammengepreßt. Deshalb haben wir zum Schluß fünfundzwanzigtausend Jahre, die man in der Jackentasche herumtragen kann.«

»Das hat Gorow auch getan. Siehst du einen Unterschied zwischen den beiden?«

Wieder untersuchte Langer die zwei Röhren. Beide waren von ihrem langen Weg durch das Meer und von der Reibung im Meeresboden rostig und abgeschliffen, und beide waren mit einem Bohrkern gefüllt. »Das sind ganz normale Bohrkerne«, antwortete Langer. »Wie die anderen dort drüben.« Er zeigte auf eine Röhrensammlung, die Conway auf einer Kiste ausgebreitet hatte.

»Diese ist von Gorow.« Beaumont nahm die eine Röhre und benutzte die Spitze seines Taschenmessers als Hebel an ihrem äußersten Ende. Ein massives, etwa acht Zentimeter langes Stück von dem Bohrkern fiel in seine Hand, als er die Röhre umstülpte. Das Stück Bohrkern am anderen Ende der Röhre blieb stecken, als er sie schüttelte. Etwas Glänzendes, fest Zusammengerolltes fiel in seine Hand. Er blinzelte Langer zu und hielt einen Teil des 35-Millimeter-Films gegen das Licht. »Und das, wenn ich mich nicht schwer täusche, dürfte ein Mikrofilm von den Katharina-Plänen sein.«

»Was sagst du da?«

»Du hast schon richtig gehört. Ich halte eine Aufzeichnung des gesamten russischen strategischen Unterwassersystems in der Arktis in meiner Hand.« Beaumont rollte den Film wieder zusammen, steckte ihn in die Röhre zurück und stülpte das Stück Bohrkern wieder darüber. »Wenn wir also Gorow verlieren, haben wir wenigstens das noch.«

»Wenn er aufwacht, wird er es vermissen«, warnte Langer. »An seiner Stelle würde ich als erstes danach sehen, wenn ich wach werde.«

»Dann halten wir ihn eben bei Laune, indem wir die Röhre in seinen Parka stecken.« Beaumont hielt die zweite Bohrröhre hoch, sah dann auf seine Uhr. Ein Uhr, Ortszeit. »Das könntest du für mich erledigen, wenn du Sam ablöst. Und jetzt werde ich mich aufs Ohr legen, bevor ich in diesem Sessel einschlafe.«

Er hatte gerade seine Stiefel ausgezogen und war in eine der unteren Kojen gestiegen, als die Tür aufgestoßen wurde und Langer zurückkam. »Ich glaube, die Russen sind hier – Sam hat Motorengeräusch gehört…«

Der Sibirier kam von Nordpol 17 per Hubschrauber über das Eis. Er landete am östlichen Rand der Nebelbank. Hier wechselte er in einen Schneepanzer über, dieses seltsame Raupenfahrzeug, das in der Arktis für kurze Strecken benutzt wurde. Es hat vier Raupenketten – zwei vorn, die das Führerhaus stützen, und zwei weitere, die den hinteren Teil tragen, der dem Anhänger eines Lastwagens ähnlich ist.

»Um ein Uhr könnten wir die amerikanische Station erreichen«, sagte Kramer, als er sich neben Papanin setzte, der sich entschlossen hatte, den Schneepanzer selbst zu fahren. »Ungefähr die Zeit, die wir für die Ankunft Gorows berechnet haben – unter der Voraussetzung, daß er sehr viel Glück gehabt hat.«

Trotz des Nebels hatten sie keine Schwierigkeiten, die Eisinsel ausfindig zu machen. Ein früheres Sicherheitskommando hatte auf Target 5 ein elektronisches Gerät auf dem Gipfel des Hügels hinter Conways Lager aufgestellt. Das Empfangsgerät dazu hielt Kramer fest in der Hand, und es führte sie direkt zu ihrem Ziel. Aber die Fahrt war entsetzlich kalt. Kramer zitterte, als sie ankamen. Auch die zehn bewaffneten Männer zitterten vor Kälte, obwohl sie im hinteren Teil des Panzers eng zusammenkauerten. Sie vermieden die Schneerampe, die es ihnen ermöglicht hätte, direkt auf die Insel zu fahren. Statt dessen ließen sie den Schneepanzer auf dem Packeis stehen und liefen das letzte Stück zu Fuß. Wie in einem Schachspiel, von einem Großmeister angelegt, war alles vorausgeplant. Als sie zu den Felsen kamen, benutzten sie eine Bergsteigerausrüstung, um sich über das sieben Meter hohe Hindernis zu ziehen. Als sie die Klippen erklommen hatten, benutzte Kramer sein Kästchen, um sie durch den Nebel zum Gipfel des mit Felsbrocken übersäten Hügels zu führen. Auf dem Gipfel machten sie mit Hilfe des vibrierenden Kompasses Norden aus, denn die Barackensiedlung lag auf der nördlichen Seite.

»Irgend etwas stimmt nicht«, flüsterte Papanin, als sie den Abhang hinuntergelaufen waren und nichts gefunden hatten. Etwas stimmte tatsächlich nicht; seitdem die letzte Luftaufnahme von Target 5 gemacht worden war, seitdem der Nebel über sie hereingebrochen war, hatte sich die Insel um einige Grad gedreht. Es war also großes Glück, daß der Sibirier gegen eine der leeren Baracken prallte, bevor er sie überhaupt wahrgenommen hatte. Einige Minuten später, nachdem er wie ein Blinder herumgetappt war, fand er die Hauptquartierbaracke, vor der ein Licht brannte. Er hämmerte mit seiner behandschuhten Faust an die Tür, rief etwas auf englisch, öffnete dann die Tür und ging hinein.

Der Sibirier beherrschte die englische Sprache perfekt; er hatte sie in einem Sprachlabor in Charkow in der Ukraine gelernt und seine Kenntnisse in langen Gesprächen mit Guy Burgess in Moskau vertieft – wann immer dieser englische Überläufer nüchtern genug war, um etwas in verständlicher Aussprache von sich zu geben. Papanin hatte den größten Teil des Jahres 1967 als Mitarbeiter einer der sowjetischen Konsulate im Südwesten der Vereinigten Staaten verbracht, einem jener Konsulate, für deren Unkosten es eine einzige Rechtfertigung gibt: Spionage.

Papanin, der aus dem Nebel auftauchte, wurde von dem Licht geblendet. Er hob die Hand, um besser sehen zu können, und erblickte drei Männer in der Baracke. Und genau von drei Männern hatte Minsky berichtet, daß sie auf ihre Evakuierung warte ten. Ein sehr großer Mann in den Dreißigern saß auf einem Bett und putzte sein Gewehr. Die Mündung war auf die Tür gerichtet. Ein kleiner, blonder Mann, auch um die Dreißig, stand nahe der Tür und hielt ein Gewehr in der rechten Armbeuge, einen öligen Lappen in der linken Hand. Der Älteste, um die Fünfzig, stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme verschränkt, der Gesichtsausdruck gespannt.

»Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür«, bellte der große Mann, wobei er den Gewehrlauf höher richtete. »Nein! Nur Sie – die anderen können draußen bleiben.«

Hinter Papanin standen im Nebel mehrere pelzbekleidete Männer, alle mindestens dreißig Zentimeter kleiner als der riesige Sibirier, der jetzt in die Baracke trat und zu dem Mann auf dem Bett hinübersah. »Ich komme von Nordpol 17…«

»Ich habe gesagt: Tür schließen«, wiederholte der große Mann sehr ruhig.

»Dr. Kramer sollte auch dabeisein«, bestand Papanin steif. »Er hat Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.«

»Na gut, Kramer kommt auch rein – die anderen bleiben draußen…«

»Es ist sehr kalt…«

»Niemand hat Sie hergebeten.«

Grimmig sah sich Papanin um. Er fühlte Wut in sich aufsteigen, während Kramer sich hinter ihm hereindrängte. Der Blonde mit dem Gewehr knallte die Tür vor den Gesichtern der Männer draußen zu und verriegelte sie mit einem kurzen, knackenden Geräusch. Papanin suchte in der Baracke flüchtig nach irgendeinem Hinweis auf Gorows Anwesenheit. Er bemerkte Bohrkerne, die auf einer Kiste lagen, einen Eisstichel daneben, wieder Kisten, eine Flasche und Tassen auf dem Tisch, gegen den der ältere Mann sich lehnte.

Papanin wäre groß genug gewesen, um die zwei Wodkaflaschen auf dem Schrank zu sehen – nur waren sie versteckt worden. Der Sibirier zog seinen feuchten Parka aus und ließ ihn über eine Stuhllehne fallen.

»Ich heiße Wassily«, erklärte er, während seine Augen weiter in der Baracke herumschweiften. »Ich bin der Verwaltungsbeamte für verschiedene sowjetische Forschungsstationen, einschließlich ihres Nachbarn, Nordpol 17. Doktor Kramer ist der diensthabende Arzt dort. Ist alles in Ordnung hier?« erkundigte er sich.

»Was sollte nicht in Ordnung sein?« fragte Beaumont.

»Ich habe etwas gerochen, als wir durch den Nebel kamen, etwas, das nach Brand…«

»Unsere Funkbaracke ist abgebrannt«, platzte Conway heraus. »Sie wurde absichtlich in Brand gesteckt. Ist das die Ordnung, die Sie gemeint haben?«

Beaumont gratulierte Conway innerlich; der Amerikaner hatte genauso reagiert, wie er es vorgeschlagen hatte. Das ermöglichte ihm eine Eröffnung, die den Sibirier verunsichern konnte. »Das ist eine verdammt ernste Angelegenheit, Wassily – wir haben nach Grönland gefunkt, um diesen Sabotageakt durchzugeben. Irgend jemand wird eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen.«

»Sie haben wegen des Feuers gefunkt?« Ein spöttischer zweifelnder Ton lag in Papanins Stimme. Diese Leute mußten Holzköpfe haben. »Können Sie mir verraten, wie man einen Sender bedient, der vom Feuer zerstört wurde?«

»Ersatzsender«, informierte Beaumont ihn lakonisch. »Wir haben immer einen Ersatz – genehmigt man Ihnen auf den russischen Basen nur einen einzigen? Wahrscheinlich müssen wir das den Extravaganzen des kapitalistischen Systems zuschreiben. Übrigens«, fuhr er fort, »Ihr Überwachungstrupp auf Nordpol 17 wird Sie sicherlich über den Funkspruch unterrichten, wenn Sie zurück sind.«

Beaumont wartete, fragte sich, ob sein Spiel aufgehen würde.

Offensichtlich wußte der Sibirier noch nichts von dem Funkspruch, aber es war lebensnotwendig: Sofern er die Tatsache begriff, daß eine Nachricht gefunkt worden war, daß Grönland über ungewöhnliche Ereignisse auf Target 5 schon informiert war, würde er zögern, extreme Maßnahmen zu ergreifen. Und allein darum ging es Beaumont – Verzögerung, Aufschub, um Zeit zu gewinnen, in der sie Gorow von der Eisinsel schaffen konnten.

»Überwachungstrupp?« fragte Papanin verständnislos.

»Spielen Sie nicht den Unschuldigen!« Beaumont stand auf; die beiden Männer schienen die Baracke auszufüllen, als sie einander gegenüberstanden. »Überwachungstrupp! Jedermann weiß, daß Sie Abhöreinheiten über die ganze Arktis gestreut haben, die unsere Funksprüche überwachen. Ein übliches Verfahren, Wassily. Warum wollen Sie ein Geheimnis daraus machen?«

Conway steckte verstohlen beide Hände in die Hosentaschen, um zu verbergen, daß er stark schwitzte. Beaumont vollführte einen Tanz auf dem Seil und konnte tief fallen. Draußen vor der Baracke stand eine Menge bewaffneter Männer, und niemand würde jemals erfahren, was im Nebel auf Target 5 wirklich passiert war. Er hatte noch seine Zweifel, ob der Engländer den Russen überlisten konnte. Er mußte vor allem unaufhörlich daran denken, daß Gorow nur wenige Meter von ihnen entfernt versteckt war.

»Ich bin nicht hierhergekommen, um darüber mit Ihnen zu reden«, sagte Papanin grob. »Ich fürchte, einer unserer Leute könnte für die Brandstiftung an Ihrer Baracke verantwortlich sein«, fuhr er in einem Ton fort, der kaum entschuldigend war.

»Dann gibt es eine gründliche Untersuchung«, sagte Beaumont offen. »Um diese Zeit wird Washington schon davon erfahren haben – Sie können sich vorstellen, wie man auf das Wort Sabotage reagieren wird!«

»Darf ich bitte ausreden…«

»Morgen könnte es schon in den Schlagzeilen stehen – Russen überfallen amerikanischen Stützpunkt…«

»Das ist absurd…«

»Kaufen Sie die morgige Zeitung, dann sehen Sie’s.«

Zum erstenmal seit vielen Jahren geriet Papanin aus der Fassung. Falls wirklich ein Funkspruch gesendet worden war, mußte er hier vorsichtig ans Werk gehen. »Kein internationaler Zwischenfall…« In Gedanken hörte er die Anweisung des Genossen Breschnew, während er sich Mühe gab, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. »Ich rede von Nikolai Marow, einem zweiten Meeresforscher«, erklärte er. »Er ist verrückt geworden und hat einen anderen Mann namens Gorow umgebracht. Er ist mit einem Schlitten und Hundegespann in diese Richtung entkommen. Marow hat die Papiere seines Opfers an sich genommen und könnte versuchen, sich für Michael Gorow auszugeben…«

»Warum sollte er das tun?« wollte Beaumont wissen.

»Weil er seine eigenen Papiere in seiner Baracke zurückgelassen hat«, behauptete Papanin glatt. »Er mußte wissen, daß Sie von ihm einen Beweis für seine Identität verlangen würden…«

»Warum glauben Sie, daß er verrückt ist?« unterbrach ihn Beaumont.

Papanin sah ihn haßerfüllt an. Die dauernden Unterbrechungen hatten seine Geduld aufgebraucht. Er ging zu einer anderen Taktik über, redete lauter. »Herrgott noch mal! Er hat Ihre Baracke in Brand gesteckt! Er hat ein brutales Verbrechen begangen! Es war kein schöner Mord…« Er ging einen Schritt näher auf Beaumont zu und versuchte, ihn mit der Kraft seiner Persönlichkeit einzuschüchtern. »Er hat den armen Gorow mit einem Eispickel getötet und ihm dann das Gesicht verstümmelt. Begreifen Sie denn nicht? Er hat drei Jahre in der Arktis verbracht, er hat den Verstand verloren – er ist wie ein wildes Tier, das irgendwo da draußen auf dem Eis herumstreunt…«

»Dann hören Sie auf, Ihre Zeit zu vergeuden. Hauen Sie ab und suchen Sie ihn!«

Papanin beruhigte sich plötzlich und zog Kramer in das Gespräch. »Diese Sache macht uns große Sorge. Wenn Sie die ganze Geschichte gehört haben, werden Sie uns vielleicht bitten, zu bleiben. Ich glaube, am besten erklärt Dr. Kramer alles – dann werden Sie verstehen, wie ernst die Sache ist. Ich darf mich setzen?« Er zog einen Stuhl hervor und nahm Platz, bevor jemand zustimmen konnte. Er lächelte freundlich nach allen Seiten. »Fangen Sie schon an, Kramer.«

»Marow ist Psychopath…«, begann Kramer in sorgfältigem Englisch.

»Wir wollen keinen medizinischen Bericht hören«, sagte Beaumont unfreundlich. Er war fest entschlossen, den Sibirier wieder auf die Beine zu kriegen. »Wir haben genug um die Ohren, ohne daß Sie sich auch noch für die Nacht hier niederlassen.«

Papanin stand langsam auf, wobei er seine Finger ausstreckte, um etwas von der angestauten Spannung zu entladen. Er mußte nun sehr vorsichtig sein; irgendwie hatte sich das Blatt gewendet: Er hatte diese Amerikaner einschüchtern wollen, und nun war Papanin selbst stark verwirrt. »Wir sind gekommen, um Sie zu warnen«, begann er, während er seinen Parka holte, »um Sie um Ihre Mithilfe zu bitten…«

»Wir sind gewarnt, wir haben geholfen, wir haben zugehört. Vielen Dank. Und nun haben wir eine Menge zu tun«, unterbrach Beaumont ihn kurz angebunden.

»Ich wollte vorschlagen, daß wir Ihre Baracken durchsuchen – einer von Ihnen könnte uns begleiten –, falls Marow sich dort versteckt.«

»Nicht nötig – wir haben sie selbst durchsucht, als wir feststellten, daß jemand die Baracke angesteckt hatte…«

Conway griff in das Gespräch ein, zog eine großartige Schau ab. Seine Stimme bebte vor echter Wut und Empörung. »Das ist ja unverschämt! Sie kommen hierher und schlagen uns noch dreist vor, unsere Station zu durchsuchen? Dieser Grund und Boden gehört den Vereinigten Staaten, Herr Wassily.« Er hatte sich einige Schritte vom Tisch fortbewegt und stand vor Papanin. »Hoffentlich muß ich Sie nicht daran erinnern, daß die amerikanische Flagge über dieser Eisinsel weht?«

Papanin beugte sich vor. Er hatte seinen Parka schon halb angezogen, als er Conway ansah. Bevor er ging, mußte er diesen Leuten einen ordentlichen Schrecken einjagen. »Ich habe die Fahne gesehen, als wir hier ankamen – sie hängt schlaff wie ein gefrorener Fisch.« Er richtete sich auf und machte seinen Parka zu. »Es wäre im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit, wenn niemand von Ihnen diese Eisinsel verlassen würde, bis Ihr Flugzeug kommt.«

»Sicherheit wovor?« fragte Beaumont.

»Wenn wir auf dem Packeis eine Bewegung sehen, könnten meine Männer annehmen, es wäre Marow. Dann würden sie möglicherweise schießen«, sagte Papanin ernst. »Ich habe ihnen zwar gesagt, daß sie ihn unversehrt gefangennehmen sollen – wenn möglich. Aber Gorow hatte viele Freunde, und einige von ihnen stehen draußen vor dieser Baracke – und alle sind bewaffnet.« Er zog die Pelzkapuze über seinen kahl rasierten Kopf. »Kramer, wir haben diese Leute um ihre Hilfe gebeten. Da wir nicht mehr willkommen sind, werden wir gehen.« Er blickte sich noch einmal in der Baracke um. »Eine angenehme Fahrt zurück in die Vereinigten Staaten, meine Herren. Hier sind Ihre Tage gezählt.«

Als sie weg waren, schickte Beaumont Grayson hinterher, um sicherzugehen, daß sie wirklich gegangen waren. Dann sah er zu Conway hinüber, der seine feuchten Handflächen mit einem Taschentuch trocknete. »Es wird von nun an verdammt brenzlig werden«, warnte er. »Der Mann, der sich Wassily nannte, ist Oberst Igor Papanin, Chef des Sicherheitsdienstes für besondere Aufgaben in Leningrad. Man hat mir sein Foto gezeigt, bevor ich Washington verließ.« Beaumont sah auf seine Uhr. Ein Uhr fünfundvierzig. »Um acht Uhr heute morgen werde ich Gorow per Schlitten hier rausholen – in sechs Stunden. Das ist die beste Möglichkeit, den Russen aus dem Weg zu gehen.«

»Warum acht Uhr?«

»Weil sie bis dahin die ganze Nacht irgendwo auf dem Packeis verbracht haben werden – sie werden abwarten, was wir tun. Sie werden es nach sechs Stunden satt haben – das Horchen, das Zittern und die Anspannung, dauernd nach irgendwelcher Bewegung Ausschau zu halten. Bis acht Uhr werden sie schlechte Laune haben und hundemüde sein. Ihre Wachsamkeit wird nachlassen. Aber es würde schon helfen, wenn wir ein kleines Ablenkungsmanöver inszenierten zu dem Zeitpunkt, wo wir aufbrechen.«

»Ich werde den Schneepanzer ein bißchen herumfahren«, schlug Conway kurz entschlossen vor. »Ich kann ihn quer über die Insel fahren, die Rampe hinunter, und dann ein wenig auf dem Packeis herumwandern.«

»Genau das wollte ich auch vorschlagen – bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls.« Beaumont stand auf. Seine Augenlider waren bleiern, seine Glieder schwerfällig. Er fing an, umherzugehen, um sich wach zu halten. »Sie haben den Weg hierher in ihren Schneepanzern gefunden – wie, weiß ich nicht –, und es könnte sein, daß sie irgendeine Art tragbares Radargerät bei sich haben. Wenn Sie den Schneepanzer herumfahren, werden sie sich darauf konzentrieren – während wir am westlichen Ufer der Insel verschwinden.«

»Sie werden gehörig reinfallen…«

»Hören Sie gut zu, Matt.« Beaumont betonte jedes Wort mit Nachdruck, um Conway das Risiko klarzumachen, auf das er sich einließ. »Wenige Kilometer von dieser Baracke entfernt steht ein Haufen bewaffneter Russen. Darum dürfen Sie keine unnötigen Risiken auf sich nehmen. Ich glaube, ich habe Papanin etwas verunsichert, als ich erzählte, daß wir gefunkt hätten…«

»Die Wahrheit wird er spätestens dann erfahren, wenn er bei seiner Abhöreinheit nachfragt.«

Einen Moment lang überlegte Beaumont, ob er Conway von seinem eigenen Sender erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß Papanin noch mal auftauchte. Das nächste Mal könnte er seine Fragen eindringlicher stellen. »Das wird er nicht, bevor er nach Nordpol 17 zurückkehrt«, sagte er. »Können Sie Ihren Schneepanzer ohne großes Risiko um den östlichen Teil der Insel herumfahren – in diesem Nebel?«

»Ich lebe seit drei Jahren auf dieser Insel – unter allen möglichen Wetterbedingungen«, versicherte Conway. »Ich kann die Landebahnlichter anmachen, um die Strecke besser zu überblicken, und ich habe einen schwenkbaren Scheinwerfer an dem Panzer, der die Rampe ausleuchten kann…«

»Fahren Sie nicht die Rampe hinunter!« sagte Beaumont eindringlich. »Über der Insel weht Ihre eigene Flagge – sobald Sie sich auf das Packeis wagen, befinden Sie sich im Niemandsland. Wenn Sie überhaupt helfen wollen, brauchen Sie nur etwa eine Stunde langsam auf der Insel herumzufahren. Auf der Insel!« wiederholte er.

Während der nächsten halben Stunde hatten sie sehr viel zu tun. Sie riefen Langer. Er war mit den Hunden in der Baracke geblieben, um sie während Papanins Besuch ruhig zu halten. Dann ließen sie Rickard aus der Baracke nebenan, wo er mit dem bewußtlosen Sondeborg eingeschlossen worden war – angeblich, um ein Auge auf den labilen Wissenschaftler zu werfen, aber auch, damit er nichts von Gorows Anwesenheit auf der Insel bemerken konnte. Beaumont war fest entschlossen, von den Männern, die auf Target 5 zurückblieben, einzig und allein Conway von Michael Gorow wissen zu lassen.

Conway und Rickard ließen sie in der Hauptquartierbaracke. Die anderen nahm Beaumont mit, um »Gorow aus dem Eisschrank zu befreien«, wie er es ausdrückte. Glücklicherweise schlief der russische Meeresforscher unter dem Einfluß der Beruhigungsmittel noch, als sie die Falltür in der Forschungsbaracke abnahmen und seinen gut eingewickelten Körper hochschafften. Nicht auszudenken, wie er reagiert hätte, wenn er in dem tiefen Grab allein aufgewacht wäre – bis er Beaumonts gekritzelten Zettel an der Lampe gefunden hätte, die sie mit der Heizung hinabgelassen hatten.

Gorow, in mehrere Decken eingewickelt, war erstaunlich warm, als sie ihn auf das Bett in der Laborbaracke legten. Er wurde wach, als Conway hereinschlüpfte und die Tür schloß. »Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist«, erklärte der Amerikaner. »Mir lief es jedesmal kalt über den Rücken, wenn ich daran dachte, daß er dort unten lag.«

»Das ist ein anderes Zimmer«, sagte Gorow, während er sich langsam aufrichtete und auf die Ellbogen stützte. »Sie haben mich in eine andere Baracke gebracht. Warum?«

Erstaunlich aufmerksam, fand Beaumont; aber ein Mann, der sich von Nordpol 17 allein über das Packeis durchgeschlagen hatte, mußte ungewöhnlich zäh sein. Er bat Conway, ihn noch einmal zu untersuchen, und zündete sich eine Zigarette an, während er ungeduldig auf das Resultat wartete. Er war überzeugt, daß ihnen nur noch wenige Stunden blieben, um die Eisinsel zu verlassen. Papanin würde sich bald von dem Schock seines ersten Besuchs erholen und wiederkommen – und der zweite Besuch dürfte weit gefährlicher werden als sein erster.

»Er scheint in ausgezeichnetem Zustand zu sein«, sagte Conway, während er sich vom Lager seines Patienten erhob. »Das begreife ich nicht – nach allem, was er durchgemacht hat.«

Beaumont fing sofort mit seinem Verhör an und bombardierte den Russen mit Fragen. Gorow sprach gut Englisch. Wie Papanin hatte er sein Englisch in dem Charkower Sprachlabor gelernt, das für seine Arbeit unentbehrlich war. Früher war Französisch die internationale Sprache der Wissenschaftler gewesen, aber seit einem Vierteljahrhundert war es durch die englische Sprache verdrängt worden – und Gorow zog es vor, wissenschaftliche Arbeiten in der Originalsprache zu lesen.

Er war offensichtlich von Beaumonts verbalem Angriff verblüfft.

»Wann waren Sie zuletzt in Kiew?«

»Letzte Woche.«

»Irgendwelche Verwandte dort getroffen?«

»Meinen Bruder Peter…«

»Er ist bei der Marine?«

»Nein, er dient nur auf einem Trawler…«

»Wie hieß Ihre verstorbene Freundin?«

Gorows dicke Lippen zuckten. Er sah Beaumont traurig an. »Sie war meine Verlobte. Wir wollten heiraten…«

»Ich habe nach ihrem Namen gefragt.«

»Rachel Lewitzer. Ist das notwendig?«

»Ja, Herrgott noch mal, ist das wirklich nötig?« platzte Conway heraus, der über Beaumonts Brutalität empört war.

»Ja, das ist es«, antwortete Beaumont knapp. Er beobachtete Gorow genau. »Vor einer halben Stunde stand Oberst Igor Papanin hier in diesem Raum.«

Angst blitzte in den Augen des Russen auf. Ängstlich sah er sich in der Baracke um – wie ein Gefangener. Er versuchte, etwas zu sagen, und schluckte schwer. Auf diese unmittelbare Reaktion hatte Beaumont gehofft; falls dieser Mann ein Spitzel gewesen wäre – von Papanin zum Spionieren auf die Insel geschickt –, hätte er eine solche nackte Angst nicht so spontan vortäuschen können.